Die Geschichte von den vier Mönchen in Biafra

Jeder schnappt im Laufe seines Lebens verschiedene Geschichten auf, ohne deren Entstehung genau zu kennen, so auch ich – nämlich die Geschichte von den vier Mönchen in Biafra. Biafra war in den 1970 Jahren ein Bürgerkriegsgebiet und dort herrschte eine riesige Hungersnot (die Fernsehbilder von verhungernden Kindern aus Biafra prägten mit meine Kindheit) und dort soll sich folgende Geschichte zugetragen haben:

Ein Flüchtlingscamp irgendwo in Biafra. Hunderttausend Menschen leben in armseligen Zelten und leiden an Hunger. Mitten im Camp steht ein großes stattliches Zelt, bewohnt von vier Mönchen die hierher gekommen sind, um Menschen zu helfen und sie zu missionieren.

Eines Tages besucht eine Delegation von Reportern und Politikern aus dem Westen das Camp und die vier Mönche. Der Delegation wurde Essen gereicht und mit den Mönchen wurde köstlich gespeist. Einer Reporterin der Delegation fällt auf, dass die Mönche alle sehr gut genährt schienen. Einige der Delegationsmitglieder verweigerten das Essen mit der Begründung, man könne hier drin doch nicht ein Gelage veranstalten, während draußen die Menschen hungerten, meinten sie voller Abscheu aufgrund der Situation.

„Schämen sie sich denn nicht, hier so zu essen, während draußen Kinder verhungern? Fragte eine junge Reporterin einen der Mönche. „Hören Sie“, sagte der alte dickliche Mönch zu der Reporterin. „Wenn wir das Essen, was wir vier hier haben, an die Hunderttausend da draußen verteilen, reicht es für niemanden zum Überleben und alle sterben. Nur wenn wir vier uns ausreichend ernähren, können wir auch den Hunderttausend da draußen irgendwie helfen.“

Empört wich die Reporterin zurück, ein Gefühl der Ohnmacht überfiel sie und schließlich brach sie in Tränen aus.

„Das stimmt ja, aber…all die Kinder“, schluchzte sie.

„Da gibt es kein aber“, sagte der Mönch. Entweder wir vier essen gut und helfen so wenigstens ein wenig mit unseren Verbindungen in den Westen, oder alle, wir auch, werden verhungern. Dann wäre niemandem geholfen. Es ist doch besser so, oder?

Die Reporterin wusste nicht, was sie sagen sollte, machte ihre Fotos und schrieb ihren Artikel – und machte so die Welt aufmerksam auf die Krise, was in den westlichen Ländern zu zahlreichen Spenden und geretteten Menschenleben führte.

Die Moral der Geschichte ist grausam aber wahr. Es gibt Situationen, wo man das Ich über das Wir stellen muss, denn ohne Ich gibt es auch kein Wir. Da kann man den Mönchen keinen Vorwurf machen. Wir erleben seit fünfzig Jahren die gleichen Bilder aus Afrika und es ist eine Schande, dass die Welt es nicht geschafft hat, den Hunger zu vertreiben, obwohl auf der Erde genügend Nahrungsmittel für alle produziert werden. Der Westen lebt im Überfluss und wirft Nahrungsmittel in Milliardenhöhe jedes Jahr auf den Müll – und in Äthiopien, dem Sudan und anderswo hungern Millionen Menschen. Ich meine, noch bevor man sich auf Themen, so schrecklich sie auch sind (Bsp. Der Ukraine-Krieg, Energiekrise, Inflation) stürzt, sollte man die Hungersnot, die weitaus mehr Menschenleben kostet, nicht aus den Augen verlieren und dafür sorgen, dass sowohl die vier Mönche als auch die hunderttausend genügend Nahrungsmittel zur Verfügung haben.

Philosophisch ist das Problem Altruismus vs. Egoismus viel zitiert und sehr umstritten. Nehmen wir mal obigen Fall. Was ist da das Richtige zu tun?

Ich tendiere zum Argument des Mönches, obwohl ungerecht auf den ersten Blick und zur Korruption verführend, scheint es mehr Menschen ein Überleben zu sichern als eine, wenn auch noch so gut gemeinte altruistische Aktion.

Dasselbe gilt meines Erachtens nach in Beziehungen auch – sorge erst für dich, und dann kannst du für andere sorgen. Es macht keinen Sinn, sich selbst kaputt zu opfern, denn wenn der eine Partner dann leer ist, ist die Beziehung auch ganz schnell am Ende.

Mir ist das Risiko eines Machtmissbrauchs in der obigen Geschichte bewusst. Aber leider stehen auch heute zig Helfer vor demselben Dilemma. Wie würdest du entscheiden?

In Therapie, Teil 4

Dass ich die Zeit habe, all dieses aufzuschreiben, war schon lange ein Wunsch von mir, den die Sucht lange Zeit unmöglich gemacht hat. Sie hat mir einerseits grandiose Erlebniswelten geschenkt, die andere Menschen so nicht erleben (ich rede hier von einer Innenschau), andererseits hat sie mir auch viel Lebenszeit genommen, in der ich zu keiner kritischen Reflektion mehr fähig war. Am Ende wurde die Krankheit zum bestimmenden Moment über alles. Nicht ich bestimmte mein Leben, sondern die Sucht. Sie diktierte meine Handlungen und meinen Tagesablauf mit klarem Ziel: Meine Zerstörung und Vernichtung. Ich war so krank, dass ich noch nicht einmal mehr schreiben konnte, vom Arbeiten ganz zu schweigen. Die Sucht war die Herrin über mein Leben und ich war ihr williger Sklave. Ich ordnete mich ganz der Sucht unter und vergaß dabei mein eigentliches Ich. Das Sucht-Ich ist verschieden vom eigentlichen Ich. Nach einer gewissen Zeit hat das Sucht-Ich das eigentliche Ich so verdrängt, dass nur noch das Sucht-Ich überlebt hatte. Das eigentliche Ich verkümmerte in den wenigen Momenten des Lichts. Ansonsten waren da nur Schatten in meinem Leben und die Lebensaufgabe verkümmerte in diesen Schatten wie eine Pflanze ohne Licht. Und nun erst die Entgiftung, dann Therapie und Adaption – es ist als ob jemand den Vorhang aufgezogen hätte und mein verkümmertes Ich endlich wieder Licht bekommt und Wachstumschancen.

Es ist schwer zu beschreiben, wie es sich anfühlt, unter dem Joch der Sucht dahin zu vegetieren. Und unsere Gesellschaft schaut zu lange weg, wenn ein Mensch süchtig wird und eben nicht mehr Herr seiner gesunden Sinne ist, sondern von der Krankheit gesteuert wird. Ich wundere mich, warum die Evolution uns so geschaffen hat, so dass ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung (in Deutschland alleine sind geschätzt 9,6 Millionen Menschen direkt oder indirekt von Sucht betroffen) von Sucht befallen wird. Wir reden hier von der Volkskrankheit, deren Folgekosten 70 Milliarden Euro im Jahr sind. Das ist mehr als der Umsatz der Branche. Insgesamt macht die Gesellschaft also auch wirtschaftlich, nicht nur gesundheitlich ein Minus-Geschäft mit der Sucht. Was sind also die Beweggründe, Sucht weiterhin zuzulassen und stiefmütterlich zu behandeln? Gerade beim Thema Alkohol, eines der stärksten Suchtmittel überhaupt. Sind die gesellschaftlichen Vorteile des Trinkens so groß, dass man die Süchtigen als Kollateralschäden in Kauf nimmt und mit Kliniken und Therapien die Folgeschäden versucht zu kaschieren? Dabei ist jeder Suchtverlauf eine Tragödie, wenn er in fortgeschrittene Stadien kommt. Egal, welches Suchtmittel dabei konsumiert wurde.

Nicht dass ich jetzt zum Anti-Alkoholiker mutiert wäre, ich gönne gerne den anderen den Schluck, aber für mich ist es wie bei einer Nuss-Allergie. Schon eine handvoll falscher Nüsse kann mich in Lebensgefahr bringen, genauso ist es mit dem Alkohol auch. Was für den einen ein Stimmungsaufheller, den anderen Medizin, ist Leuten wie mir einfach nur ein Gift, welches uns tötet. Manchmal denke ich an die Leute, mit denen ich meine erste Entgiftung 1999 gemacht habe. Nach der Statistik sind die meisten von ihnen rückfällig geworden und die Hälfte ist tot. Das macht mich sehr sehr nachdenklich.

Warum trinken diese Menschen oder nehmen andere Substanzen zu sich? Die Gründe dazu sind vielfältig, das reicht vom Trinken aus Langeweile bis hin zur Traumabewältigung. Ich kann nur für meinen Teil sagen, dass ich damit versucht habe, einen in mir wohnenden Schmerz zu betäuben. Einen seelischen Schmerz, der nüchtern fast nicht zu ertragen war und der in mir seit meiner frühen Kindheit schlummert. Wodurch dieser Schmerz ausgelöst wurde, ist heute nur schwer zu lokalisieren, Kindheitstraumata sind da ganz wichtige Faktoren neben der sozialen Umwelt in Kindheit und Jugend auch. Aber der Schmerz alleine bedingt noch keine Sucht. Psychische Schäden ja, aber zur Sucht braucht es eben auch das geeignete Suchtmittel. Und weil ständig verfügbar, habe ich schon sehr jung dazu gegriffen. Diese Mischung aus seelischem Schmerz und Suchtmittel haben letztendlich die Sucht hervorgebracht – und die anderen psychischen Krankheiten dann mit sich. Es grenzt an ein Wunder, dass es so lange Jahre funktioniert hat. Funktionieren heißt aber noch lange gut gehen. Wann, Markus, ist es dir zum letzten Mal so richtig gut gegangen? In Deutschland nie, in Afrika sehr wohl.

Ich habe es in Deutschland nicht geschafft, mich von den Kindheitstraumata zu lösen. Das hat auch damit zu tun, in welcher Gesellschaft ich mich befunden habe. Viele der mir am nächsten stehenden Personen sind an der Entstehung der Traumata beteiligt gewesen und ich habe den Absprung aus diesem sozialen System nie richtig geschafft. Trotz aller Versuche der Abgrenzung war der Schmerz der Verletzungen aus der Vergangenheit immer präsent. Ich hätte viel früher gehen müssen und mein altes Leben verlassen.

Auch für die Zukunft ist nicht anzunehmen, dass wenn sich das soziale Umfeld nicht ändert, der Schmerz verschwinden wird. Das wird er nicht, und die Sucht fungiert dabei noch als Verstärker. Sucht bedingt Schmerz und Schmerz bedingt Sucht. Ein Teufelskreis. Auch jetzt beim Schreiben fühle ich das beklemmende Brennen in meiner Brust. Und das trotz der Tabletten.

Der Schmerz macht mich müde. Zwar bei weitem nicht so müde wie anfangs der Therapie hier, da ist vieles besser geworden. Aber dennoch strengt es mich an, den Abwehrkampf gegen den seelischen wie körperlichen Schmerz zu führen. Ich wünschte mir nichts sehnlicher als eines morgens aufzuwachen und der Schmerz wäre weg. Aber das wird wohl eher ein Wunschtraum bleiben. Was ich tun kann, ist die Sucht zu bezwingen und den Teil des Sucht-Schmerz Zyklus zu durchbrechen. Die Sucht geht, der Schmerz bleibt und die große Aufgabe wird sein diesen (Phantom)-Schmerz zu bekämpfen.

Dafür muss ich medikamentös neu eingestellt werden, im Rahmen einer psychiatrischen Behandlung. Wie diese genau aussieht, vermag ich Stand heute noch nicht zu sagen. Unzweifelhaft sind jedoch Diagnose wie Symptome vorhanden. Was nicht ein wenig Liebe alles heilen könnte…

Aber die Liebe ist fern zurzeit. Ich spüre sie ab und an in Wallungen, kribbelnde Hitzewellen. Aber in diesem Setting hier hat die Liebe einfach keine Chance. Zu vieles an Altlasten wird hier entsorgt und die Seele entrümpelt, was gut ist, denn dann muss ich in der neuen Liebe diese Altlasten nicht mehr tragen, sondern kann befreit und frohen Mutes mich in die neue, echte Liebe stürzen. Ich meine hier nicht einfach eine beliebige Beziehung, sondern die allumfassende Liebe, die alles zusammen durchstehen kann. Alleine die Tatsache, dass ich sie spüre, beweist, dass sie immer noch da ist, obwohl so weit entfernt. „Lieben ist leiden“, habe ich mal geschrieben. Und ich liebe und leide auf hohem Niveau. Nicht „ich liebe dich trotzdem“, sondern „ich liebe dich deshalb“. Liebe kann Berge versetzen und sie hilft mir bei der Bewältigung der Sucht. Denn Abstinenz ist bei mir Voraussetzung für eine Beziehung, auch wenn die Partnerin konsumieren sollte. Ich wünschte mir aber eine Beziehung ohne Alkohol. Denn wie sie mit Alkohol scheitern kann, habe ich in meiner letzten Beziehung schmerzlich erfahren müssen.

Es ist schwer genug mit einem Suchtkranken zusammen zu sein, sind beide abhängig, wird die Beziehung schnell toxisch. Unheimlich aufregend, aber auf Dauer zerstörerisch. Wenn der eine Partner konsumiert, der andere aber versucht davon loszukommen, sind die Chancen ebenfalls nich gut. Besser ist es, wenn beide Seiten dann aus Respekt der Erkrankung sich enthalten. Das tut dem Liebesabenteuer keinen Abbruch, im Gegenteil, es bietet eine sichere Basis für ein längeres Zusammensein. Kann ich mir vorstellen, mit einer Person zusammen zu sein, die abhängig ist? Sicherlich, so lange die Sucht nicht das komplette Leben bestimmt und solange keine gewalttätigen Ausfälle passieren. Wenn ich so etwas wie Leitsätze im Leben entwickelt habe, ist einer von ihnen „keine Gewalt“ in einer Beziehung. Sollte es jemals wieder so weit kommen, werde ich sofort meine Sachen packen und gehen. Alles andere wäre nur Rückfall-Gefährdung.

Eine Sucht (der Begriff kommt von „siechen“) ist mit eine der schlimmsten Erkrankungen, die man als Mensch bekommen kann. Weil sie so lange dauert, chronisch ist – und man am Ende daran stirbt. Das ist einfach wissenschaftliche Tatsache. Viele meiner Altersgruppe sterben an den Folgen ihres Rauchens und Trinkens, oftmals an Folgeerkrankungen, so dass sie in der Sterbestatistik gar nicht beim Thema Sucht auftauchen, sondern einen Herzinfarkt oder Schlaganfall bekommen, der ursächlich beim Suchtmittelgebrauch liegt. Die Dunkelziffer hier ist sehr hoch. Auch ich bin aufgrund meines sägenden Blutdrucks in einer Risiko-Gruppe.

Das nächste sind die eventuell auftretenden psychischen Probleme, wenn ein Partner konsumiert. Diese treten zwar vermehrt beim Konsumierenden auf, überlagern jedoch auch die Beziehung in den anderen hinein. Auch das erzeugt Stress und sollte verhindert werden. Könnte ich mit einer depressiven Person zusammen sein? Sicherlich, wenn sie mit Medikamenten gut eingestellt ist.

Ich bin der letzte, der anderen vorschreiben will, wie sie zu leben haben. Aber ich bin das lebende Beispiel dafür, was auch passieren kann, wenn man nicht früher interveniert, seitens der Gesellschaft genau wie seitens des sozialen Umfelds. Jeder Abhängige versucht in der Suchtphase seine Angehörigen zu so genannten „Co-Abhängigen“ zu machen, das heißt auch das Leben der Angehörigen den Regeln der Sucht zu unterwerfen. Dadurch geraten viele Beteiligte ohne eigenes Zutun in die Suchtspirale hinein, ohne es oftmals bewusst wahrzunehmen („ich wollte dir ja nur etwas Gutes tun“) und befördern den inneren Abwärtstrieb des Abhängigen geradezu. Die Sucht hört nicht auf und endet mit dem Tod, früher oder später. Und viele Angehörige sind dazu verdammt diesen Selbstmord in Zeitlupe mit anzusehen und mitzuerleben. Der Tod eines Süchtigen ist ein grausamer, langer Prozess und oftmals kommt jede Hilfe auch einfach zu spät. Auch bei mir in der Familie hat es diese Fälle gegeben.

Raus aus der Sucht, weg vom Nikotin und Koffein. Das wird die Aufgabe der nächsten Tage sein. Vom Nikotin bekommt man zum Glück nur einen schwachen kurzen Entzug, nach drei Tagen sollte es vorbei sein. Schon einmal habe ich aufgehört mit dem Rauchen, von jetzt auf gleich. An einem Datum, welches ich nie vergessen werde, dem 11. September 2001. Danach war ich rauchfrei bis ins Jahr 2019. Und jetzt rauche ich so viel wie damals. Ich hoffe ja, dass die lange Abstinenz mir die schlimmsten körperlichen Schäden erspart hat, immerhin rauche ich, seit ich zwölf Jahre alt war. Da ist die Macht der Gewohnheit doch groß. Auch hier habe ich das Verhalten bei den Eltern abgeguckt, beide waren starke Raucher zu der Zeit, mein Vater raucht Pfeife bis heute. Auch hier trafen zusammen die genetische Veranlagung zur Sucht und das gelernte soziale Verhalten, welches ausgehend von Kindheit und Jugend das spätere Erwachsenenleben prägt und letztendlich in Krankheit, Siechtum und Tod führt, was das Rauchen auch tut. Es dauert halt nur länger. Ich empfinde beim Rauchen auch keinen Lustgewinn mehr, ich rauche um den unangenehmen Entzug zu entgehen, welcher sich vor allem als schmerzhaftes Kribbeln in Armen und Beinen bemerkbar macht. Sie stehen quasi unter Feuer. Die Polyneuropathie lässt grüßen. Dass nun an der Schädlichkeit des Tabak-Konsums keinerlei Zweifel bestehen, ist ja allen seit Jahrzehnten klar. Und manchmal schäme ich mich dafür.

Das ist mein Traum: Ein suchtfreies Leben! Was für Millionen für Menschen selbstverständlich ist – einen klaren Kopf zu haben, nicht mehr nach Alkohol oder Tabak riechen oder zwanzig Tassen Kaffee am Tag zu trinken. Mein ganzes Leben wurde von dieser Sucht bestimmt und nun bin ich davon richtig krank geworden. So krank, dass ich meine Lebenszeit hier in der Suchtklinik verbringen muss. Zeit, die auch anders und viel nützlicher verbracht hätte werden können. Na immerhin bleiben davon diese Texte und ein paar Bilder aus der Ergotherapie.

Zeit ist ein seltsamer Faktor. Zum einen habe ich hier zu viel davon, andererseits rennt mir die Lebenszeit förmlich durch die Finger und ich verspüre einen dringenden Drang, Dinge aufs Papier zu bringen. Schon morgen könnte es ja vorbei sein. Eine Art Torschlusspanik macht sich breit, die Angst (nicht schon wieder eine Angst!) dass ich das wozu ich auf dieser Welt bin, nicht vollbringen kann, nicht das ausüben, wozu ich bestimmt bin – oder ist es vielleicht genau das, was ich hier gerade tue? Im Kämmerlein beobachten und niederschreiben? Möglichst viel erleben, um es anderen erlebbar zu machen? Kann gut sein. Zumindest kann ich die Krankheit und Genesung beschreiben. Das können auch nicht so wahnsinnig viele Menschen.

Sonntag Morgen. Zu spät aufgewacht für die Kirche. Schade. Ich habe gut und lang geschlafen. Allerdings wirre Träume gehabt, die ich leider nicht erinnern kann. Die Heimfahrt beschäftigt mich. Was wird es wohl für eine Zukunft sein? Ich hoffe, eine gute. Wieder von Schauspielern, Musikern und Politikern gelesen, die einen plötzlichen Tod sterben. Selektive Wahrnehmung? Der Tod kommt näher, Tag für Tag. Für jeden von uns. Wird man im Leben einmal vor den Tod gestellt, ist er präsent, als Gedanke. Wer sich mit dem Tod, oder was danach kommt, einmal richtig konfrontiert sieht, denkt danach anders. Mit dreißig war ich unbesiegbar. Mit fünfzig bin ich besiegt. Der Tod hat sich mir gezeigt, beinahe von eigener Hand, und ich bin dankbar, dass es nicht so weit gekommen ist. Schließlich kann ich noch diese Zeilen schreiben. Es ist Ende November und die Jahreszeit lädt ein zur Besinnung. In den USA ist Thanksgiving und ich erinnere mich mit Freude zurück, als ich dort Thanksgiving im Kreise einer großen schwarzen Familie feiern durfte, und sogar mit der Oma den „Gumbo“ kochen, eine Spezialität aus Louisiana. Mit der Oma kochen zu dürfen, gilt in der dortigen Familientradition für einen Mann als höchste Ehre und ich bin bis heute dankbar für die Erfahrung, die ich dort machen durfte.

Bald ist Weihnachten und ich werde dieses Jahr das Fest nicht zuhause verbringen, sondern in einer Einrichtung. Die Zeiten der großen Familientradition mit den Weihnachtsfeiern mit über 20 Mann sind aufgrund der Corona-Pandemie eh vorbei. Die Tradition ist abgebrochen auch wegen Todesfällen und dem gesundheitlichen Zustand (inklusive meines eigenen). Vielleicht können wir sie ja irgendwann mal unter den jüngeren wieder aufleben lassen. Allerdings bin ich da sehr skeptisch, da die Jungen so sehr mit ihren Alltagssorgen beschäftigt sind und das traditionelle Familienleben in den Hintergrund gerät. Ich werde die stillen Tage für Besinnlichkeit nutzen, eine Kirche besuchen und beten. In diesen Novembertagen gedenken wir still und leise denjenigen, die nicht mehr unter uns weilen. Dazu gehören bei mir auch schon Bekannte von früher, die den Zoll für das Partyleben der früheren Jahre zahlen mussten. Es sind einige viel zu früh verstorben. Einige auch deshalb, weil sie nicht mehr wussten, wie nach der Partyzeit weiterleben. Für manche war die Verbindung zum Nachtleben so stark, dass sie im Tagesleben einfach nicht mehr zurecht kamen und sich schließlich das Leben nahmen. Das wäre beinahe auch mein Weg gewesen. Ich kann sie irgendwie verstehen, denn wer von uns jungen Wilden wollte denn jemals alt werden? Die Vorstellung war uns völlig fremd und nur wenige hatten einen Plan für den Tag X, an dem die Party vorbei war. Und doch stehen wir nun da. Und sind älter geworden und andere Prioritäten müssen gesetzt werden. Es sind auch einige meiner Mitstreiter aus der Techno-Szene sehr krank geworden. Depressionen und Sucht sind bei uns „ehemaligen“ leider ein sehr häufiges Erscheinungsbild. Wir haben unsere Freiheit gelebt – und für viele ist das Eingesperrtsein im bürgerlichen Käfig nur schwerlich auszuhalten. Und so greift manch einer zur Flasche, mit all den Spätfolgen, welche dann folgen.

Ich bin also nicht der einzige, der in diesem Stadium ist. Im Gegensatz zu manchem anderen habe ich aber aktiv etwas dagegen getan. Suchtberatung, Entgiftung, Langzeittherapie – und dann die Adaption. Ich gehe also konsequent die Schritte, die die Gesellschaft für die „Wiederherstellung“ erwartet. Noch kann ich etwas zu unserer Gesellschaft beitragen, meine Erfahrungen teilen und den jüngeren mitgeben. Was sie dann daraus machen, bleibt ihnen überlassen.

Die eine Party ist vorbei für mich, die wilden Jahre sind gelebt, und das reichlich. Ich habe nichts ausgelassen und die Jugend in ihrem Sturm und Drang löst bei mir väterliche Gefühle und ein (alters)mildes Lächeln aus. Ich bin wirklich der letzte, der den jungen Leuten die Party verbieten will. Noch letztes Jahr tanzte ich nächtelang durch, es war ein Heidenspaß. Doch alles hat seinen Preis, den ich nun mit geschundenem Körper in der Reha absitze. Aber im Partyleben konnte ich so richtig aufgehen, den Alltag vergessen. Immer noch bin ich bei der modernen Musik und die Musik war die treibende Kraft im Nachtleben. Ich hasse Ü40 und Ü50 parties und deren Hang zur musikalischen Nostalgie. Sicherlich höre auch ich gerne ältere Sachen, aber meinen Underground-Sound spielen heutzutage nur noch sehr wenige. Im Radio schon gar nicht. Manchmal fühle ich mich ein wenig aus der Zeit gefallen – und wundere mich, dass es seit der großen Techno-Bewegung in den 90er Jahren keine große neue Jugendbewegung gegeben hat. Ist das die Folge von Online-Playlists und -Videos, wo jeder sein eigener DJ sein kann? Und wo der Musik-Geschmack so auseinander driftet, dass es gar kein Bedürfnis für gemeinsame Zusammenkünfte mehr gibt? Was ist mit dem Motto „Love, peace and happiness“ passiert? Der friedliche Protest unserer Generation gegen Gewalt und Misswirtschaft in der Welt? Die Jungen neigen heutzutage eher zum Klima-Aktivisten denn zur Loveparade. An deren Niedergang sieht man das Ende einer Jugendbewegung am deutlichsten. Erst kommerzialisiert, von dem nur ganz wenige Namen profitierten, und dann kaputt organisiert. Mittlerweile wird ein Comeback versucht, aber denselben Effekt wie damals, den selben politischen Zweck dürfte sie nicht mehr erreichen. So wirken wir im Untergrund weiter in unseren Klubs und auf unseren Festivals. Doch der Eifer der Jugend ist dahin.

Aber was will ich jammern, ich war dabei und habe es genossen. Und überlebt. Leider hat man die Chance über die Bewegung Veränderungen in der Gesellschaft herzustellen nicht genutzt. Zu sehr war die Bewegung nach innen gerichtet, zu überwältigt vom großen Erfolg. Es fehlte echte Leadership im „Friede, Freude, Eierkuchen“. Für mich waren es jedenfalls schöne Jahre. Man kann nicht dreißig Jahre Techno machen und dann verlangen, dass man achtzig wird.

Und jetzt kommen eben andere Jahre. Zeiten der Reflektion und der Besinnung und Zeiten für ein anderes Dasein.

Mit dem Rauchen aufhören, das nächste Projekt. Heute rauche ich nur noch die Hälfte, morgen davon die Hälfte und dann ist Schluss mit der Nikotin-Koffein-Spirale, die so unsinnig ist, wie nochwas. Das Gegenteil von Freiheit ist Abhängigkeit und schließlich bin ich hier, um mich davon zu lösen! Warum sollte ich das nicht schaffen, was Millionen von anderen (die Zahl der Raucher geht in Deutschland stetig zurück) auch geschafft haben. Rauchfrei in ein neues Leben! Wünsch mir Glück dabei, Alte Seele. Ich weiß, dass Du mich dabei unterstützt.

Ich bin ja schon mal 15 Jahre lang rauchfrei gewesen und sehne mich danach, endlich wieder atmen zu können, besser riechen und schmecken. Mein lieber Nachbar hat mich vor ein paar Jahren wieder zum Rauchen verführt und schwupps war die Sucht wieder am gleichen Punkt wie vorher auch. Dasselbe Suchtgedächtnis funktioniert auch hier wieder hervorragend. Nun sind aber die schädlichen Auswirkungen des Rauchens (Husten, Atemnot, Herzrasen, hoher Blutdruck) weitaus bestimmender als die kurzfristige Belohnung des limbischen Systems. Der Suchtmechanismus ist beim Tabak wie beim Alkohol derselbe. Also können auch dieselben Tools zur Suchtbekämpfung zum Einsatz kommen. Koffein, Alkohol und Nikotin. Und ich will weg von alledem. Außerdem bieten sie hier in der Klinik auch Kurse zur Raucherentwöhnung an. Einen sehr aufschlussreichen Vortrag dazu habe ich bereits gesehen. Rauchen tötet. Und das nicht zu knapp. Doppelt so viele Menschen sterben am Rauchen als mit Alkohol. Das sollte jeden nachdenklich machen und zumindest den Versuch wagen, aufzuhören. Aber ich will kein Moralapostel sein. Könnte ich mir vorstellen, mit einer Raucherin zusammen zu sein? Ja, durchaus. Wenn der Wille zum aufhören da ist.

Heute Abend gibt es Fußball, Deutschland gegen Spanien, es ist Weltmeisterschafts-Gruppenphase in Qatar und es ist gut möglich, dass Deutschland die Gruppenphase nicht übersteht. Na ja, hoffentlich regt das Spiel mich nicht so auf wie das letzte. Wir werden sehen. Ein wenig Lesen noch davor. Und, was ist passiert? Verschlafen habe ich das Spiel! Da sieht man mal wieder, wie tief die Therapie in mir wirkt und wie tief ich mit meinen eigenen Sachen mich beschäftige, dass ich sogar so ein „wichtiges“ Spiel verpasse. Macht aber nichts, es wurde ein laues 1:1 draus.

Gruppentherapie über Beziehungen und Reha. Ich kann da schlecht mitreden, da ich im Moment (gottseidank) keine aktive Beziehung führe. Die Therapie macht Wesensveränderungen mit uns und ich will, dass meine Partnerin mich im nüchternen Zustand kennen lernt. Meine Persönlichkeit ändert sich im Laufe der Wochen. Ich spüre deutlich den Einfluss der Beschäftigung mit mir selbst und spüre die Krankheit auf dem Rückzug. Sie ist immer noch da, aber ich lerne im Alltag damit umzugehen. Panikattacken hatte ich das dritte Wochenende (sie traten da immer gehäuft auf) nicht mehr. Gottseidank, Aber ich spüre deutlich die Medikamente und mein Blutdruck ist viel zu hoch (160 in Ruhe) und auch der Ruhepuls ist zu hoch, über 100 Schläge die Minute. All das zeugt von innerer Unruhe und Rastlosigkeit, die mich immer noch plagt. Die Allergie wird besser, die Ausschläge gehen zurück und ich lasse mir jetzt die Haare länger wachsen. Das macht mich zwar älter, ist aber im Winter nicht so kalt. Tagsüber trage ich eh eine Mütze und Winterjacke.

Insgesamt geht es mir durchwachsen. Morgens bin ich fit, denn ich schlafe gut und viel, viel mehr als zuhause, wo oft nur vier oder fünf Stunden drin waren, hier sind es zehn bis zwölf. Keine Ahnung, was mein Körper da macht, aber am Schlafmangel kann es nicht liegen, dass ich nachmittags sehr müde werde. Von der alten Leistungsfähigkeit bin ich noch ein ganzes Stück entfernt, aber es wird von Tag zu Tag besser. Was ich vermisse, sind echte Glücksmomente, die kann der Alltag hier leider nicht liefern, dafür aber eine stetige Zufriedenheit in Sicherheit. Sicherheit ist ein großes Thema geworden nach dem Überfall in Polen, der ja doch ein Trauma zurückgelassen hat und dessen Spuren vor allem in der Psyche noch deutlich vorhanden sind. Dieses Trauma wurde therapeutisch auch noch nicht wirklich angegangen, anders als die Kindheitstraumata die ich in der Gruppe auch schildern durfte. Es geht hier ja nicht nur um die letzten Jahre meines Lebens, sondern wir betrachten ja den gesamten Lebenslauf und hier fügen sich Ursachen und Wirkungen langsam zu einem Gesamtbild – und ganz so schlecht sieht das gar nicht aus. Ich weiß nun um den Dämon, den ich bekämpfen muss und ich weiß auch, wie ich das tun kann. Zumindest hier in der Klinik funktioniert das auch. Der wahre Test wird dann bald draußen im Leben stattfinden, wenn die Erholungspause (die ja aktive Arbeit an sich selbst ist) wieder vorbei ist. Wir sind ja nicht zum Spaß hier und das ist auch kein Wellness-Urlaub. Wir arbeiten hart an der Überwindung einer der schlimmsten Krankheiten, die ein Mensch bekommen kann! Denn kaum eine Krankheit führt in so ein lang andauerndes und grundlegendes Leiden, welches dann am Ende in einer sehr langen Agonie und schließlich im Tod endet.

Dienstag. Rien ne va plu – Nichts geht mehr. Ich habe lang geschlafen und bin schon mit einem seltsamen Gefühl aufgewacht. Nicht nur das Früstück habe ich verschlafen, sondern beinahe sogar das Mittagessen. Hunger hatte ich keinen und habe nur die halbe Portion vom Schweinebraten hinuntergewürgt, widerwillig. Beinahe musste ich mich übergeben dabei. Das Essen wird zu einem Problem. Ich habe einfach keinen Appetit. Danach wurde mir so schwindelig, dass ich kaum den Aufzug zum Zimmer geschafft habe. Ich musste mich hinlegen und versank in eine tiefe Meditation. Ich nenne sie „Licht-Medidation“. Am Anfang ließ ich mich in den Schwindelsog fallen. Ich fühlte absolute Verzweiflung hochkommen und war nicht in der Lage mich zu bewegen oder den Schwindel zu stoppen. Also sank ich immer tiefer in den Schwindel hinein. Bis ich plötzlich das Licht sah. Ein warmes helles Licht, gesprenkelt mit hellen Sternchen. Mein Körper verkrampfte sich. Das Licht kam näher und füllte mein gesamtes Schichtfeld. Meine Arme und Beine kribbelten und wurden langsam taub. Ich zitterte. „Komm in das Licht“, flüsterte meine innere Stimme. Hier ist es schön und ruhig. Gedankenfetzen an die Alltagssorgen versuchten mich abzuhalten, in das Licht zu gehen. Ich hatte Todesangst und war bereit zu sterben, sollte das Licht jetzt das Ende sein. Ich zog Resümee über mein bisheriges Leben und beschloss, dass es gut war. Also ging ich in das gelblich-rötliche Licht, welches vor meinen Augen schwebte. Wie Sternennebel waberte es hin und her. Ich wälzte mich im Licht, mein Körper verharrte regungslos in einer Starre. Metallener Geschmack machte sich in meinem Mund breit. Ich atmete tief und ruhig und lies das Lichtspiel vor meinem Augen passieren. Ich wollte mich von meinem Körper und diesem Leben lösen. Komm in das Licht, rief die Stimme. Das Licht ist immer bei dir. Es strahlt aus deinem Inneren und du kannst immer zum Licht zurückkehren. Ich war wach, aber von der Außenwelt durch einen unsichtbaren Schleier getrennt. Meine Augen begannen zu tränen. Mein Bauch grummelte. Der ganze Körper befand sich in hoch erregtem Zustand. Ich lies das Licht gewähren und gewaltige Farbwolken taten sich vor meinen Augen auf. Ich spürte die Wärme und kniff meine geschlossenen Augen weiter zu. Strahlen trafen mich. Sterne leuchteten auf wie bei Sternschnuppen. Ich flog weiter in das Licht. Im Licht gibt es keine Schmerzen und keine Sucht, keinen Entzug und keine Therapie. Das Licht würde mich immer begleiten und von innen Leuchten, wenn ich es nur zuließe. Das Licht würde von nun an mein ständiger Begleiter sein, den ich immer rufen kann.

Ich fühle mich tiefenenstpannt nach dieser Meditation, allerdings auch ein wenig zittrig. Mein Zeitgefühl ist verzerrt, die Zeit vergeht rasend schnell. Kaum ist Morgen, ist auch schon wieder Abend, kaum ist Montag, ist schon wieder Montag. Kaum ist der erste im Monat, ist schon wieder der erste im Monat. Tief im Innern spüre ich ein Glücksgefühl, welches von innen kommt. Meine Augen tränen und ich weiß nicht, warum. Ich leide an Nikotin-Entzug, welcher sich in vermehrter Durchblutung meiner Hände und Füße, sowie ein Brennen in der Lunge bemerkbar macht. Ich esse einen Apfel und muss ihn hinunter würgen. Mein Körper widerstrebt jeglicher Nahrung.

Ich wünsche mir, das Licht könnte mich ernähren, so wie es meine Seele nährt, Heftiges Ohrensausen setzt ein. Ich nehme meine Tabletten und hoffe. Ich rieche seltsam und muss mich duschen.

Adaption dann als nächstes. Doch kein zurück ins alte Zuhause, so langsam bezweifle ich, dass ich son schnell wieder die alte Wohnung sehe. Es geht jetzt Schritt für Schritt, wie bei einem Kleinkind in die neue Erfahrung. Da muss man mir auch mal, wie bei einem Kleinkind das Händchen halten. Ja, so fühle ich mich im Augenblick. Aber andererseits ist es auch ziemlich spannend, einen wiederum neuen Schritt zurück ins Leben zu tun. Hier in der Klinik ist man ja doch sehr eingeschränkt und unter ständiger, wenn auch subversiver Kontrolle. Nie weiß man genau, wann man zur Blutentnahme oder zur Urinkontrolle muss. Aber das ist auch gut so, denn auch das schützt vor dem Gespenst des Rückfalls, egal ob „trocken“ oder „nass“, wobei letzteres das Schlimmste wäre, was einem nach zwölf Wochen in der Suchtklinik passieren könnte. Davor habe ich, nein, keine Angst, aber höchsten Respekt. Die Sucht ist ein schwieriger Gegner und sie arbeitet mit List und Tücken. Just in dem Moment, in dem es dir „zu gut“ geht, schlägt sie womöglich zu. Da hilft nur Achtsamkeit und die Besinnung auf die vielen Skills und Tools, die man in den Gruppen- und Einzeltherapien gelernt hat. Und dennoch, die Sucht lauert immer, jetzt gedrängt in den Hintergrung aber sie ist stetig Präsent, auch 150 Tage danach. Sie wird auch in Zukunft eine ständige Begleiterin sein. Nur ist sie schlecht für mich und gewiss keine gute Ratgeberin. Es ist wie eine toxische Beziehung. Wenn man merkt, dass es einem nicht gut tut, sollte man schnellstmöglich die Beziehung für immer beebden.

Ich habe das in meiner letzten Beziehung getan, die von beidseitigem Trinken und immensen Streits im betrunkenen Zustand geprägt war. Eine super liebevolle Partnerin, klug, erfolgreich und sehr intelligent. Ich habe die Zeit mit ihr genossen, wir haben zusammen Bücher gelesen und Dokumentationen geschaut. Sie ist eine der wenigen Menschen, die ich kenne, die zur kritischen Reflektion fähig ist, egal wie schwierig das Thema auch war. Wir haben über Rassismus debattiert, weil sie schwarz und ich weiß bin. Über Rassen- und andere Politik. Sie hat mich weiter in das Denken der farbigen Communities in den USA eingeführt. Wir haben über Wirtschafts- und Sozialpolitik diskutiert, sie als Amerikanerin ist auch Sozialistin und wählte Grüne Außenseiter-Kandidaten. Wer hätte das von einer Tochter eines gutbürgerlichen Hauses, welches in der Tradition immer mit Sicherheitspolitik zu tun hat, geglaubt. Ich konnte sogar manchen ihrer Thesen zustimmen, in anderen Dingen ist sie zu radikal. Und sie kann sich nicht beherrschen, wenn sie getrunken hat. Dann sind ihre Verletzungen seelischer Art so präsent, dass sie die Beherrschung nicht nur einmal verloren hat – und sehr verletzend werden kann. Da ich Gewalt als Kind erfahren habe, lehne ich jede Form von Gewalt in einer Beziehung ab. Und so musste ich dann gehen, als die Beziehung toxische Züge bekam. Ich habe jetzt, vier Jahre danach, keine neue Beziehung mehr angefangen und glaube auch nicht daran, dass ich über das Internet nochmals das Glück haben sollte, jemanden zu finden, der so weit gleicht tickt wie ich. Aber das ist vielleicht auch ganz gut so, denn zwei Alphatiere passen schlecht in einen Käfig, dann schon gar nicht, wenn einer oder beide permanent betrunken sind.

Ich habe aus der Beziehung aber etwas gelernt: Suche nicht dich selbst im anderen, wenn du nicht mit dir Selbst im Reinen bist, denn eine solche Beziehung kehrt deine inneren Konflikte nach außen und sie werden notwendigerweise zu bearbeiten sein – und je nach Fähigkeiten und Konfliktbearbeitungspotential des anderen an den Tag treten. Ich mache ihr keine Vorwürfe und liebe sie nüchtern immer noch, aber zu einer Beziehung kann es unter diesen Umständen nicht mehr kommen. Dazu bin ich immer noch zu instabil. Der einzige Weg wäre, dass beide auf das Trinken verzichteten und einander sehr viel mehr Freiraum ließen. Aber das ist Wunschdenken meinerseits, denn sie funktioniert (noch) in der Gesellschaft zu gut. Ich wünsche ihr alles Gute und bin als Freund und Ratgeber für sie da. Sie weiß ja,wie sie mich erreichen kann.

Warum bringe ich dieses Thema auf, Alte Seele? Ja, weil das Thema Nicht-Beziehung ein großer Faktor in meiner Krankheitsgeschichte ist. Weil Beziehungen wichtig sind und weil die Einsamkeit ein Risikofaktor für meine Erkrankung ist. Es ist ein zweischneidiges Schwert, einerseits möchte man sich binden und Fürsorge erfahren (beiderseits), andererseits möchte ich niemandem mit meinen Problemen zur Last fallen. Es wäre schön, eine funktionierende Beziehung zu haben, doch auch diese Schützt im Ernstfall vor der Sucht nur wenig. Oft entstehen Co-Abhängigkeiten oder Erpressbarkeit auf beiden Seiten. Und an der Seite eines konsumierenden Alkoholikers zu stehen ist eine nahezu unmögliche Aufgabe. Wer möchte schon dem anderen beim Suizid in Zeitlupe, denn nichts anderes ist der Alkoholismus in der Spätphase, zusehen, beziehungsweise ihn dabei auch noch unterstützen? Andererseits kann eine gute Beziehung ja durchaus dazu geeignet sein, weg von der Sucht zu kommen.

Und genau so eine Partnerin wünsche ich mir. Dabei kann von Vorteil sein, wenn sie selbst Erfahrungen an sich oder in der Familie diesbezüglich hat.

Samstag Morgen. Einen Apfel zum Frühstück. Ich habe das reguläre Frühstück verschlafen, aber die paar leeren Kalorien von dem Marmeladebrötchen lasse ich mal weg, das schadet nichts und tut der Figur auch gut. Mein Projekt „rauchfrei“ geht in sofern weiter, dass ich das Rauchen drastisch reduziert habe – von einer Schachtel auf zirka fünf Zigaretten am Tag. Ich spüre den Nikotin-Entzug deutlich, mein Geschmackssinn hat sich verbessert und erst jetzt merke ich, wie scheiße eigentlich die Zigarillos schmecken! Pfui. Den Rest des Rauchens bekomme ich auch noch weg, doch gut Ding will Weile haben. Ich habe permanent das Bedürfnis zu duschen und den ekelhaften Rauchgeruch aus den Klamotten zu bekommen. Es ist schon bescheuert, was wir uns mit unseren Süchten selbst über die Jahre antun!

Apropos Sucht und Liebe. Wie geht man damit um, wenn der/die Partner/in einen im betrunkenen Zustand kennen und lieben gelernt hat und dieser jemand plötzlich nüchtern und abstinent erscheint? Das bringt so manche Beziehung an den Rand der Verzweiflung, weil man den anderen plötzlich in einem komplett neuen Licht sehen muss. Die Sucht hat auch ihre schönen Seiten, gerade in Beziehungen, wenn Tabus gebrochen werden und die Last des Verstandes nicht der Lust des Körperlichen im Wege steht. Es ist eben einfach „drauf“ neue Leute kennen zu lernen und sich auf der Stelle zu verlieben. Ein ganz anderes Blatt ist jedoch, den stinknormalen Alltag miteinander zu bewältigen, ohne die Ausgelassenheit des Rausches oder ohne die Tabulosigkeit des Nachtlebens. Es ist schön, betrunken verliebt zu sein. Aber es ist tausendmal schöner, es nüchtern zu sein.

Deshalb habe ich den Weg der Beziehungslosigkeit gewählt, zumindest so lange, wie die Sucht ein Thema ist. Schließlich will ich eine Partnerin und keine Pflegekraft. Doch wie wir alle wissen, ist die Liebe stark, dort wo sie hinfällt und sie kommt, ob wir es nun wollen oder nicht, in ihren verschiedenen Gestalten (vergleiche Gedicht Regenbogen der Liebe) daher. Und wir Menschen sind relativ machtlos gegenüber der Kraft der Liebe, wenn sie uns trifft. Ich habe immer schon die großen Liebesgeschichten der Geschichte bewundert, auch wenn die meisten davon über kurz oder lang in Tragödien enden. „Die Liebe endet nimmermehr“, steht über der Tür an der Grabkapelle auf de, Württemberg, einst errichtet vom König für seine jung verstorbene Königin. Oh, wie wahr ist dieser Satz. Die Liebe endet nimmermehr und manchmal geht sie auch über den Tod hinaus.

Ich glaube fest an ein Leben nach dem Tod. Ich glaube fest an Wiedergeburt der Seele. Ich glaube, dass das seelische, welches wir noch lange nicht hinreichend erforscht haben, in der Lage ist, Zeit und Raum zu überwinden. Ich glaube, dass wir sowohl körperliche, wie geistige und seelische Wesen sind und dass manche von uns die Gabe haben, seelische Dinge zu schauen und manchmal auch zu leben. Dass ein Verständnis für das Unerklärliche im Leben existieren kann und dass es weitaus weniger Zufälle gibt als gemeinhin angenommen. Ich glaube nicht an einen fixierten Determinismus und ich glaube, dass wir einen freien Willen zumindest in Teilen haben, jedoch im Rahmen unserer individuellen Umstände und Fähigkeiten.

Ich glaube fest daran, dass es eine höhere Macht gibt, die uns Möglichkeiten gibt, unser (dieses) Leben in verschiedene Richtungen zu lenken. Die Frage an uns Menschen ist, ob wir diese Steuerung akzeptieren oder verbissen dagegen ankämpfen – und im Tod spätestens verlieren. Die Macht eines Menschen ist endlich. Die Macht der Seele und der Liebe hingegen währt ewig.

Wozu gibt es denn die Liebe? Wir brauchen sie nicht, um zu überleben. Kinder können auch ohne Liebe gezeugt werden, das Überleben unserer Spezies ist davon nicht abhängig. Heutzutage und in Zukunft kann neues Leben im Reagenzglas erzeugt werden. Ganz ohne menschlichen Zutuns. Auch können die Kinder in liebloser Umgebung groß gezogen werden, wie ja die Erziehungslager in autoritären Staaten zeigen. Auch dafür brauchen wir die Liebe nicht unbedingt. Warum also hängen wir an einer Konstruktion, die technisch gesehen gar nicht mehr notwendig ist?

Ist die Liebe ein Evolutions-Schritt oder ein Überbleibsel aus einer anderen Kultur? Und doch ist es so, dass die meisten Lieder wegen der Liebe geschrieben und gesungen werden. Die allermeisten Gedichte und Geschichten ranken sich um die Liebe. Leben ohne Liebe ist möglich, aber sinnlos.

Verleiht also die Liebe dem Leben erst den Sinn? In unserer westlichen Welt haben wir in unseren Paarbeziehungen der Liebe eine große Bedeutung eingeräumt. Arrangierte Ehen sind bei uns die Ausnahme. Das hat seine Ursache in der Religion der Liebe, die gepredigt wurde über Jahrhunderte lang und in der Aufklärung, welche die Rechte des Einzelnen zumindest auf die gleiche Stufe der gesellschaftlichen Pflichten gestellt hat. Das ist bei weitem nicht in aller Welt so. In anderen Kulturkreisen sind Liebe und Heirat immer noch getrennt und arrangierte Ehen an der Tagesordnung.

Ich sehe in der Macht der Liebe, und ja sie kann sehr machtvoll sein, in unseren Gesellschaften einen Fortschritt, einen Weg der Menschen zu ihrem ganz persönlichen Glück. Nur leider zeigen unsere Scheidungsraten, dass das, was die Menschen als Liebe betrachten, es oft nicht ist, sondern eher ein Verliebtsein (ja, auch ich verliebe mich schnell). Haben wir, trotz Jahrhunderten der Reformation und der Aufklärung das Konzept der Liebe immer noch falsch verstanden?

Mein Traum, und hier bin ich als Kind meiner Gesellschaft, ist der etwas naive Traum von Frau und Mann, die in Liebe leben, in Liebe Kinder zeugen und Großziehen. Das Grundbedürfnis von Bindung äußert sich im Wunsch nach Liebe.

Wie sieht diese Liebe aus? Nun, in erster Linie heißt Liebe – sich kümmern. Um den anderen kümmern, an ihn denken, sich altruistisch in den anderen hineinversetzen, Dinge und Lebenszeit teilen, gemeinsam Dinge tun und erleben, geben mehr als nehmen. Liebe ist nicht Kontrolle, sondern Liebe gibt Freiheit und Sicherheit. Wahre Liebe fordert nicht, sie gibt. Gegen alle Widerstände.

Ich stelle mir die Frage, woher diese Liebe kommt. Wir wissen von Tieren (Papageien, Pinguine, Elefanten etc.) dass lebenslange Bindung an den Partner schon früh in der Evolution verankert ist. Ist das Liebe, wie wir sie definieren oder nur evolutorisches Nützlichkeitsdenken? Ich für meinen Teil glaube, dass auch Tiere eine Seele haben, dass auch sie, wenngleich auch mit anderen Möglichkeiten an dem Seelenleben teilhaben, aus dem unser Begriff der Liebe erwächst. So hatte ich einmal einen Hund, den ich hergeben musste – ein paar Wochen später war der Hund tot, weil er seine Bezugsperson verloren hatte.

Die Liebe kann also durchaus tödlich sein, das „Broken-Heart-Syndrom“, das Sterben am gebrochenen Herzen ist ein reales Phänomen. Viele Süchtige leiden darunter. Liebe kann sehr verletzend sein, vor allem dann, wenn sie einseitig ausgenutzt wird. Liebe kann geben aber genauso nehmen.

Wenn wir nun in einer Gesellschaft leben, in der die Idealvorstellung die liebende Familie ist, in der alle Regenbogen-Farben der Liebe auftreten, so müssen wir in der Gesellschaft Mechanismen einbauen für diejenigen, bei denen es eben nicht klappt.

Woher kommt nun die Liebe? Ich weiß es nicht, ich kann, genau wie jeder andere Mensch nur mutmaßen. Von Gott, sagen die Religiösen. Von der Natur, sagen die Biologen und Atheisten. Vom Menschen selbst, sagen die Anthropologen. Von der Gesellschaft, sagen die Soziologen, von innen, sagen die Psychologen. Wissen tut es meines Erachtens nach niemand.

Liebe tut gut. Sie setzt ungeheure Kräfte zum Guten frei. Ein Leader, der sein Volk liebt, würde es nie einem Krieg aussetzen. Krieg ist das Gegenteil von Liebe. Krieg vernichtet, Liebe schafft. Es heißt ja nicht umsonst „Mit Liebe gemacht“ und nicht „mit Liebe vernichtet“.

Wir sollten uns in der Gesellschaft mehr Gedanken um die Liebe machen, und der Liebe mehr Chancen geben. Beziehungen sollten mehr Raum bekommen (fast 40% der Haushalte in Stuttgart-Mitte sind Singles) und der Staat sollte mit Familienhilfen die Liebenden noch mehr unterstützen. Ich plädiere für eine Single-Steuer, deren Ertrag man direkt Familien zugute kommen lässt. Denn in Liebe erzogene Kinder geben die Liebe, die sie erfahren haben auch weiter. Zudem sind sie robuster gegen psychische Erkrankungen oder Suchtkrankheiten.

Liebe gibt Stabilität (die ich als Erwachsener so vermisse) und halt, sie baut ein Ur-Vertrauen in das menschliche Beziehungsgefüge ein. „Was du säst, das wirst du ernten“, und von in der Kindheit erlebten Liebe zehren wir ein Leben lang. Oder, wenn sie nicht da war, leiden wir ein Leben lang. Ich fürchte bei mir ist es Letzteres. Und dennoch bin ich fähig, zu lieben. Ich war schon oft in meinem Leben ver-liebt. Das sicherlich. Aber echte Liebe durfte ich nur zwei Mal erleben. Doch dazu später mehr. Mittagessen.

Ich sehe also die Liebe als ein reales Faktum im menschlichen Leben an, nicht nur ein verklärtes romantisches Vorstellungsbild. Liebe in all ihren Facetten macht (für mich) das Leben erst lebenswert. So liebe ich meine Tochter, ohne sie mit meiner Liebe zu strangulieren. Denn, Liebe ist nicht Kontrolle. Auch solche Partnerschaft habe ich erlebt, wo Eifersucht mehr zählte als Liebe. Wahre Liebe kennt keine Eifersucht. Sie lässt Raum und vergeht nicht. Liebe kann man nicht vernachlässigen, Menschen schon. Liebe kann man nicht kontrollieren – Menschen schon. Liebe kann man nicht ausbeuten – Menschen schon. Wir merken also, die Liebe steht über den Dingen, manchmal auch in den Dingen. Denn auch dieser Text ist mit viel Liebe geschrieben.

Wird man ohne Liebe krank? Kann sein, muss aber nicht. Es gibt zahllose Beispiele wie meines, wo die Lieblosigkeit und Traumata der Kindheit erst im reifen Erwachsenenalter in der so genannten „Midlife-Crisis“ wieder auftauchen. Erst jetzt, mit einigem Abstand bin ich in der Lage, das Vergangene zu analysieren und hinzunehmen. Festzustellen, dass die Liebe in meinem Leben bevor ich erwachsen war, eben nicht das entscheidende Moment der Erziehung war, sondern ein mir unerklärlicher Hass. Alleine meine Existenz schien diesen Hass zu rechtfertigen. Ein Hass, der niemals von mir aus ging – schließlich war ich ja ein Kind. Aber anscheinend habe ich die Erwartungen meiner Eltern (sofern sie je welche hatten) so bitter enttäuscht, dass Liebe in Hass und Verantwortung in Verwahrlosung um schlug. Warum das so war, ist mir bis heute ein Rätsel.

Hätte ich in der Kindheit mehr Liebe erfahren, wäre ich heute nicht so krank, wie ich bin. Das ist ein Fakt und nicht mehr rückgängig zu machen. Wir können die verursachten psychischen Schäden mit Therapien und Medikamenten versuchen auszubessern. Aber die Schäden sind da, lassen sich nur bedingt heilen und sorgen für große Trauer und Ärger jetzt im älter werdenden Markus, der ja nicht beschädigt auf die Welt gekommen ist, sondern dem diese Schäden beigefügt wurden, ob nun mit Absicht oder nicht.

Von Anfang an zeichnete sich eine Inkompatibilität zwischen mir und meiner Familie ab, die leider bis heute anhält. Statt um meine Position im Familienverbund zu kläffen, zog ich mich immer weiter in meine Welt der Bücher und Geschichten zurück, las die großen Dramen als wären sie mir passiert und lebte dann die eigenen Dramen aus.

Sonntag Morgen. Ich halte stille Andacht im Zimmer. Mein Projekt „rauchfrei“ geht weiter, nun bin ich bei zwei Zigarillos am Tag! Die letzte dann heute nach dem Mittagessen. Dann hoffentlich habe ich das geschafft. Nebenwirkung: Ich bemerke erst jetzt, wie stark ich nach Rauch rieche! Ich habe das Bedürfnis, alles zu waschen, um den Gestank, und ja es ist ein Gestank, aus den Klamotten los zu bekommen. Die letzte Therapie-Woche fängt an und es ist Zeit, Fazit aus dieser Langzeit-Therapie zu ziehen. Die Alkohol-Entwöhnung hat gut geklappt, das Trinken ist im Augenblick weit weg und ich spüre, wie sich mein Körper schrittweise erholt. Ich habe viel über die Sucht gelernt, nicht umsonst hat die Klinik einen guten Ruf. Das Motto hier würde wohl heißen „hart aber herzlich“. Es ist schon eine andere Welt in so einer großen Einrichtung mit 300 Patienten, ein ständiges Kommen und Gehen. Richtige Freundschaften konnte ich hier nicht entwickeln, leider. Aber das sollte eben nicht sein. Gute Therapeut-Patient-Beziehungen schon. Das würde ich gerne weiter vertiefen, aber das ist eben nicht möglich. Draußen bin ich auch auf mich alleine gestellt.

Ich habe viel über meine Krankheit erfahren und neue Tools und Skills gelernt, diese auch zu beherrschen. Es liegt in Zukunft alleine an mir, ob ich den Weg des Lebens oder des langsamen Todes gehen will. Auf jeden Fall wurde mir ein gangbarer Weg aufgezeichnet und aus der Reflektion und Beschäftigung mit der Vergangenheit, auch mit der weiter weg seienden Vergangenheit einiges klarer, was meinen Lebenslauf betrifft. Und, ganz wichtig: Dass es eben noch nicht vorbei sein muss. Dass es noch eine Zukunft gibt, solange ich eben nicht rückfällig werde. Mit Alkohol gibt es nur Leid, Schmerzen und Tod. Meine Krankheit ist in einem Stadium, in dem es kein wenn und aber mehr gibt – 40 Jahre Sucht hinterlassen ihre Spuren; körperlich, geistig und vor allem auf der emotionalen, Seelenebene.

Man könnte meinen, sechzehn Wochen Therapie wären lang. Sind sie nicht. Die Prozesse, die zur vollständigen Genesung führen, können hier nur angestoßen werden. Durchführen muss ich die Genesung aber selbst, draußen, auch unter Exposition mit dem Suchtmittel. Was hier an Prozessen begonnen wurde, muss ich in Adaption, Nachsorge und Psychotherapie alleine weiter führen. Aber dann winkt eine hoffentlich lange, so lang wie die letzte, (15 Jahre oder länger) Zeit der Abstinenz in einer neuen Lebensphase, in die ich etwas verunsichert noch aber frohen Mutes gehe.

Ich habe gelernt, die Krankheit zu be-greifen, die negativen Gefühle zu erkennen, die mich früher zum Trinken gebracht haben. Ich habe Hilfsmittel (Medikamente), um diese Gefühle (denn die Sucht wird gesteuert von dem Teil im Hirn, in dem Emotionen entstehen, dem limbischen System) zu beeinflussen. Dazu gehören auch Meditation und Gebet. Ich weiß jetzt, wie ich die Panikattacken behandeln kann und die Angstattacken im Griff halten. Dabei hilft mir die Lichtmeditation.

Ich gehe aus dieser Klinik auf dem Papier kränker als ich gekommen bin. Aber die neue Diagnose, die die Erfahrungen aus der Kindheit und Jugend mit einbezieht, ist mir sehr willkommen, denn sie ermöglicht weiter gehende, langfristige und tiefe Therapie-Arbeit an meiner Seele. Den oder die geeigneten Therapeuten zu finden dürfte mit Hilfe der Suchtberaterin auch machbar sein, so dass ich hoffentlich nicht durch das Netz im Gesundheits-System falle. Eines ist auf jeden Fall klar, bevor die Suizidgedanken wiederkommen, hole ich Hilfe – und sei es mit dem Notarzt in die Psychiatrie.

Was ich hier auch gelernt habe, ist, dass das Leben an sich einen Wert hat, dass meine Existenz einen Wert hat. Dass die Gesellschaft der Meinung ist, in mich noch einmal investieren zu wollen. Dass ich meinen Beitrag leisten kann, hat die erfolgreiche Arbeitstherapie gezeigt. Ich hoffe, dass ich endlich meinen Platz am Rande der Gesellschaft finde, an dem ich mit dem was ich mitbringe, auch weiter wirken kann. „Ich bereue nichts“, singt Edith Piaf. Ich bereue sehr vieles und das in mir brennende Gefühl der Angst hat auch etwas mit Reue zu tun. Ich habe durch mein Verhalten auch andere Menschen verletzt und das gilt es wieder gut zu machen. Es beginnt mit dem Vergeben an sich selbst. Wenn ich mir selbst nicht vergeben kann, ist es relativ sinnlos von anderen Vergebung zu erwarten. Ich bin ein Kind meiner Zeit und lebe teilweise die Fehler der Erziehung in den 1970er Jahren. Und da bin ich nicht alleine, wie viele Mitpatienten hier berichten können. Wir sind das Ausschuss-Produkt einer damals herrschenden Utopie der „freien Erziehung“, und die Schranken, die wir damals gebraucht hätten, wurden in der liberalen Gesellschaft viel zu spät hochgezogen. Ich plädiere nicht für eine konservative Erziehung, aber gewisse Schranken im Bezug auf Suchtmittel, zum Beispiel, fehlten in meiner Sozialisation. Und da bin ich wahrlich nicht der einzige.

Und so kämpfen wir Jahrzehnte später mit den Folgen einer Krankheit, deren Wurzeln vor 50 Jahren gelegt wurden. „Laisser faire“ führt eben nicht nur zur Entstehung eines verantwortungsvollen, sich und andere liebenden Menschen, sondern auch zur Gewalt und Depression. So lassen sich die Langzeitfolgen einer gescheiterten gesellschaftlichen Utopie in der Suchtklinik Jahrzehnte später besichtigen. Und meiner Meinung nach ist das erst der Anfang, denn die Jahrgänge, die es noch schwerer haben werden, was Sucht betrifft, mit den neuen Süchten des Internets und legalisiertem Cannabis rollen ja erst auf die Kliniken zu. Der Alkoholkonsum dagegen nimmt trendmäßig ab, wobei eine Differenzierung zwischen Nicht- und Extremgebraucher stattfindet, und letztere dann nach Jahren in der Klinik landen werden, sofern die Gesellschaft Mittel dafür bereitstellt. Und ob das mit dem Fachkräftemangel dann zu bewerkstelligen ist, ist fraglich. Das Problem Substanzengebrauch ist nicht nur mein persönliches Problem, sondern eines, welches Millionen von Menschen auf dem ganzen Planeten betrifft und schon winkt die Opioid-Schwemme über den Atlantik, betroffen sind vor allem Frauen.

Das Gute an einer Suchterkrankung ist ja, dass man sie stoppen kann. Im Gegensatz zu einem aggressiven Krebs zum Beispiel hat man Zeit, das Suchtmittel zu entziehen oder das Suchtverhalten zu ändern. Die Krankheit verläuft gewissermaßen in Zeitlupe. Sie lässt jahrzehntelange Behandlungen und Therapien zu. Man hat genügend Zeit, verschiedene Methoden und Ansätze auszuprobieren, denn die Patienten überleben in der Regel eine sehr lange Zeit mit der Sucht.

Eine einmal erworbene Sucht ist nicht heilbar, aber sie ist therapierbar und in eine Art Tiefschlaf versetzbar. Ein langes, gutes, abstinentes Leben ist auch mit der Diagnose Suchterkrankung möglich. Dabei sind die Zahlen gar nicht so schlecht, wie immer verbreitet wird. Zirka die Hälfte aller Langzeit-Patienten schafft es über Jahre nach der Therapie auch suchtmittelfrei zu bleiben.

Bei der anderen Hälfte hingegen sieht es nicht gut aus. In der Langzeitbetrachtung sterben viele der rückfällig gewordenen innerhalb weniger Jahre an den Folgen des weiteren Konsums. Schließlich sind die Suchtkliniken oft das letzte Mittel, um den Teufelskreis von Sucht und Depression zu durchbrechen. Und jede Woche sterben tausend Menschen und mehr allein an den Folgen des Alkohols in Deutschland. Vor der drohenden Schwemme an alkoholisierten Rentnern habe ich schon berichtet. Der demographische Wandel macht auch vor der Sucht keinen Halt.

Im Prinzip ist es ganz einfach: Lass es sein! In dieser Therapie geht es nicht darum, etwas zu tun. Es geht darum, schädliches Verhalten abzustellen. Und dafür muss man etwas tun. Man muss seine Vorurteile und seine sorgfältig errichteten Schranken fallen lassen und die Therapeuten beherzt auf seine Seele zugreifen lassen. Man muss sich in gewisser Weise seelisch nackt machen und das eigene (Fehl-)Verhalten auch eingestehen. All diese Kliniken, Ärzte, Dienste und Beratungen sind ja geschaffen worden, um die Nachteile der gesellschaftlich akzeptierten Suchtmittelbenutzung auszugleichen. Die Gesellschaft hängt also die freie Entfaltung des einzelnen höher als den Verlust der Kranken als Folge. Das ist eine politische Entscheidung und sicherlich keine einfache Abwägung. Als unmittelbar Betroffener kann ich aber sagen, dass der Preis der Freiheit im Krankheitsfall für den Einzelnen furchtbar hoch ist, und die Schicksale der Umwelt des Betroffenen ebenfalls hart.

Ich bin der Meinung, wir sollten in der Gesellschaft offener über die Thematik der Sucht reden. So befürworte ich seit langem die Legalisierung von Cannabis, weil es als Droge weicher ist als Alkohol und weil die Auswirkungen auf den Konsumierenden nicht so destruktiv sind wie beim Alkohol. Ich befürworte die Legalisierung, obwohl ich genau weiß, dass eine neue Welle von Süchtigen ein paar Jahre danach in die Suchtkliniken geschwemmt werden wird. Auch das ist eine politische Entscheidung, wobei man die Einzelschicksale der Abhängigen gegenüber der gesellschaftlichen Mehrheit abwägen muss. Ich meine, Legalisierung ja, mit entsprechenden Angeboten für Abhängige und Prävention bei Jugendlichen. Das ist meines Erachtens der richtige Weg aus der Illegalität und sinnlosen Verfolgung von harmlosen Konsumenten.

Es ist vollbracht. Der letzte Zigarillo, in der Kälte, nach dem guten Mittagessen. Er schmeckte fürchterlich.

Die Mechanismen der Sucht sind immer dieselben, unabhängig vom Suchtmittel. Deshalb ist es auch ratsam, die Entwöhnungsbehandlung auf alle Süchte anzuwenden. Ich habe mir lange Zeit gelassen und dem Alkoholentzug den Vortritt, weil die gesundheitlichen Folgen für mich beim Alkohol zu eklatant viel schlimmer sind als beim Nikotin. Nichtsdestotrotz bedient das Nikotin dieselben Mechanismen. Und schließlich ist das Ziel hier ja suchtfrei zu werden, um später ein suchtfreies Leben führen zu können. Ich kann gar nicht beschreiben, wie befreiend es ist, nicht abhängig zu sein, nicht rauchen oder trinken zu müssen, denn genussvoll war in der Schlussphase weder das eine noch das andere.

Dass ich es kann und dass es mir gut tut, habe ich in der Vergangenheit ja schon einmal bewiesen, mit einer Abstinenz von fünfzehn Jahren. Ich hoffe inständig, dass ich in den nächsten fünfzehn Jahren mich mit anderen Dingen beschäftigen kann als mit meinen Süchten. Auf gut Deutsch gesagt: Ich habe die Schnauze gestrichen voll von Abhängigkeit, seelischen Erkrankungen, von Depression und Bipolarität. Ich habe es satt, an der Flasche zu hängen oder am Glimmstängel! Ich habe es satt, mich mit Suizidgedanken herumzuschlagen oder anderen sozialen Schwierigkeiten. Ich will leben – und nicht sterben. Dieses Denken – auch ein Therapieerfolg.

Nach realistischer Betrachtung habe ich noch zwanzig Jahre bis zur Rente (das Rentenalter wird ja in Zukunft beträchtlich steigen müssen bei der demographischen Entwicklung) und ich habe nicht vor, diese zwanzig Jahre im Sumpf der Sucht und Depression zu verbringen! Alle Warnschüsse vor den Bug habe ich bekommen und es ist allerhöchste Eisenbahn, dass ich diese Warnungen auch verstanden habe! Es gibt keinerlei Spielraum mehr mit der Sucht. Entweder ich gewinne oder die Sucht gewinnt – und in dem Fall bin ich tot und nur eine anonyme Nummer in der Suchtstatistik. Das soll so nicht sein.

Gute Tage, schlechte Tage. Die guten Tage nutzen, dieses Tagebuch oder diesen langen Brief schreiben und die schlechten Tage ertragen, das ist das Motto. Hoffen, dass für mich auch ein „normales“ Leben möglich wird. Ich bin nun den weiten Weg gegangen, um die Tiefen der menschlichen Existenz auszuloten. Es wird Zeit, auch wieder ein paar Höhen zu erleben! Wobei ich diese eher in einer Gelassenheit und in einer Meta-Ebene der Reflektion sehe als im Konkreten. Schön wäre es, wenn meine Gedanken gehört würden, aber selbst das Äußern schon verschafft mir Erleichterung.

Gehen wir doch Schritt für Schritt in diesen neuen Lebensabschnitt. Das Vergangene ist vergangen und kommt nie wieder. Das Jetzt ist temporär und bald Vergangenheit. Das Kommende wird zum Jetzt. Nur das können wir beeinflussen. Was kommt. Nicht mehr, was war, in Grenzen, was ist. Ich merke an mir selbst, dass ich immer noch zu sehr am Vergangenen hänge. Loslassen ist das Zauberwort! Das Vergangene war nicht schön, umso einfacher ist es, ein besseres Kommendes zu gestalten! Und schließlich bin ich nicht alleine auf dem Weg.

Wie Du merkst, Alte Seele, mache ich mir selbst Mut. Dabei ist alles so einfach. Trinke nicht und alles wird gut! Keine Krankheiten mehr, keine Klinikaufenthalte, kein Grübeln, keine Angstattacken, keine Panikstörung, keine Essstörungen, kein Durchfall, keine Blutungen, kein Husten, kein Galle spucken, keine Vergiftung meines eigenen Körpers mehr.

Es ist schwierig zu schildern, wie ich diesen Körper mit schädlichen Stoffen traktiert habe, und wie durch ein Wunder funktioniert alles noch, irgendwie. Selbstverständlich werde auch ich älter und merke die ersten Auswirkungen des Alters. Aber angesichts der jahrelangen Vergiftung bin ich noch erstaunlich gut in Schuss. Hör auf, dich permanent zu vergiften, dieser Satz löste mit die Behandlungskaskade aus. Ich wurde mir meines eigenen schädlichen Verhaltens bewusst lange bevor ich aufhören konnte. Dasselbe gilt für das Rauchen auch.

Mit dem Alkohol werde ich es in Zukunft halten wie mit den Nüssen. Ich bin allergisch dagegen! Wenn ich von den falschen Nüssen auch nur wenig esse, schwillt mein Hals zu und es kann zu lebensbedrohendem Schock kommen. Also sind einige Nüsse für mich strikt tabu. Dasselbe gilt für den Alkohol. Was für andere kein Problem, kann für mich lebensbedrohend sein. Die Strategie ist dieselbe wie bei den Nüssen auch: Strikte Vermeidung aus Notwendigkeit. Überlebensnotwendigkeit.

Wenn ich mir überlege, wie viel meiner Lebenszeit ich der Aufrechterhaltung meiner Sucht gewidmet habe, komme ich zu einem erschreckenden Ergebnis. In der Schlussphase war mein komplettes Dasein nur noch der Stoffgewinnung und dem Konsum gewidmet, alles andere habe ich vernachlässigt. Stunden, Tage, Monate, Jahre habe ich mehr der Sucht gewidmet als mir selbst oder den Menschen in meinem Umfeld. Die Sucht hat alles bestimmt: Mein tun, handeln, denken, fühlen. Die emotionale Ebene ist am meisten betroffen, denn die Suchtstoffe greifen unmittelbar dort im Hirn ein, wo sich Emotionen bilden. Und wenn hier schon in der Prädisposition ein Mangel, bzw. ein Ungleichgewicht an Botenstoffen existiert, greift die Sucht doppelt hart in die emotionale Befindlichkeit ein. Betrunken lacht es sich einfacher, aber es weint sich auch umso heftiger.

Die körperlichen Begleitsymptome der Vergiftung waren letztendlich der Auslöser für die Abstinenz. Der Körper wollte einfach die Zufuhr dieser Stoffe nicht mehr hinnehmen. Schwere Entzugserscheinungen waren die Folge, begleitet von anderen Ausfallsymptomen wie Lähmungen oder Blutungen. Der Alkoholentzug hätte mir fast das Leben gekostet und ich will niemals wieder so etwas erleben. Niemals! Es ist das Schlimmste, was einem passieren kann, dagegen ist eine Grippe oder eine Corona-Infektion ein Klacks. Umso dankbarer bin ich heute, dass ich sowohl den körperlichen Schmerz als, und das noch viel schwerwiegender, den geistigen Stress überlebt habe, was keinesfalls eine Selbstverständlichkeit ist. Ich habe schon jüngere, weniger schwere Fälle gehen sehen. „Das Leben will wirklich was von dir“, sagte meine Therapeutin, nachdem ich meine Nahtod-Erfahrungen geschildert hatte. „Es lässt dich nicht los und du bist noch nicht fertig hier“. Sie hat recht. Da gibt es noch eine Lektion zu lernen, wenn man so kurz vor dem Ableben dem Tod von der Schippe springt. Etwas Wichtiges. Was genau das ist, wird die Zukunft zeigen, aber es muss schon etwas Großes sein. Wozu sonst der ganze Aufwand?

Sonntag Nachmittag. Ich leide unter Nikotin-Entzug, denke über die „Heimfahrt“ nach und hoffe, dass das alles so bald wie möglich vorüber ist.

Montag. Ich bin nervös, zittere und kann nicht schlafen. Ich versuche zu meditieren. Mein Bauch grummelt und ich habe den Eindruck, nichts auf die Reihe zu bekommen, obwohl ich alles gemacht habe wie ich sollte. Mal wieder duschen.

Fahrkarte besorgt. Halbe Weltreise nach Bad Homburg, der Automat hier war defekt. Typisch Deutschland! Eine halbe Stunde habe ich Zeit bis zum Mittagessen. So langsam sind meine Tage hier gezählt und ich freue mich, wieder ins „Ländle“ zu kommen. Mal sehen, wie das alles jetzt weiter geht. Ich fahre am 13.12. Richtung Heimat nach Fellbach bei Stuttgart.

Ich bekomme gerade eine Panikattacke. Ich glaube, ich sollte einen Arzt sehen. Ein metallener Geschmack macht sich in meinem Mund breit und ich zittere am ganzen Körper. Die Krankheit hat mich voll im Griff. Meine Kehle schnürt es zu und in meiner Brust spüre ich einen brennenden Schmerz. Nach Hause nach dem Bahnhof – und hinlegen, bis die Attacke vorüber ist. Damit muss ich jetzt leben lernen. Dass eben nicht alles so einfach geht wie früher.

Mittwoch. Gut geschlafen, doch die Panik geht weiter. Ruhepuls ist 120 und Blutdruck 150/94 trotz Medikamenten. Seltsam. Mein Herz schlägt unregelmäßig und laut. Aber ich muss mir immerzu die gleichen Gedanken durch den Kopf jagen: Markus, was tust du hier eigentlich? Wozu ist das alles gut? Nun, ich bin dabei, den Alkoholismus zu besiegen. Das erfordert höchste Aufmerksamkeit und Achtsamkeit. Markus, du bist hier wegen einer ganzen Palette an psychischen Störungen (ich habe erstmals die Liste an Diagnosen gestern gesehen), die es zu bearbeiten gilt. Der Alkoholismus ist dabei zwar nicht ursächlich, doch neben den Panikattacken bei weite, die Störung, die am meisten im Alltag behindert. Und suchtfrei zu leben, ermöglicht erst die Therapie der anderen Störungen, die da sind. Angststörung, Bipolare affektive Störung etc. Auch heute, fast ein halbes Jahr nach der letzten Trunkenheitsphase bemerke ich das Fehlen des Alkohols als dämpfendes Mittel. Emotionen kommen hoch, gerade auch in der Gruppentherapie, Emotionen und Gefühle, diemit dem Konsum zu tun hatten. Wir spielen absichtlich gedanklich unangenehme, belastende Situationen durch, um die Antwort des Körpers und der Seele zu provozieren und an dieser automatisierten Antwort dann psychologische Methoden anzuwenden, um den Rückfall und das tödliche Weiterführen der alten Trinkgewohnheiten zu verhindern. Ich muss mir selbst immer und immer wieder klar machen: Ein Rückfall ist keine Option, denn ich würde daran schnell sterben. Also ist die Abstinenz bei mir eine Frage von Leben und Tod. Ich habe keine Optionen mehr neben dem eingeschlagenen Weg, egal wie steinig und voller Hindernisse körperlicher wie geistiger wie seelischer Art er auch sein mag. Ich bin todeskrank! Und meine ganze Existenz hängt daran, die erste Dose Bier eben nicht zu kaufen oder gar zu öffnen und zu trinken. Das wäre mein Untergang.

Dessen bin ich mir bewusst, wobei das Nüchternsein beileibe nicht einfach ist. Jemand, der nicht süchtig ist, wird das Problem erst gar nicht verstehen. Was soll denn daran bitte schwierig sein, kein Suchtmittel zu sich zu nehmen? So sind wir doch geboren. Die wenigsten von uns wird abhängig geboren. Wir erwerben die Sucht im Laufe unserer Sozialisation – und beim Alkohol dauert es meist fünfzehn Jahre oder länger, bis die Sucht so weit fortgeschritten ist, dass sie das ganze Leben bestimmt. Bei mir in der Schlussphase war es tatsächlich so. Und jetzt ein halbes Jahr Kliniken und Abstinenz einfach wegwerfen wäre das Schlimmste, was mir passieren könnte, schlimmer noch als ein schneller Tod durch z.B. einen Herzinfarkt.

Der Alkohol lässt einen Süchtigen, wie ich es bin, elendig und langsam verrecken. Es ist eine schreckliche Art zu sterben, denn man stirbt ja nicht am Alkohol an sich (es sei denn, man holt sich eine Alkoholvergiftung), sondern man stirbt an den Folgeschäden an Leber, Herz, Hirn oder sonstigen Organen. Der Alkohol vergiftet eben den ganzen Körper, jede einzelne Zelle ist betroffen, ohne Ausnahme. Insofern ist es ein Wunder, dass ich noch einigermaßen funktioniere, der 15jährigen Abstinenz mit meiner Tochter sei Dank, ohne diese Phase wäre ich schon längst unter der Erde. Auch jetzt weiß ich nicht, wie lange der Kampf ums Überleben gut geht, denn mein Körper, und vor allem mein Hirn zeigen erste Folgeschäden. Noch sind sie gering. Aber der Kampf gegen die Sucht ist ein immer währender, nie endender. Jede Sekunde des Nüchternseins genieße isch, auch wenn die äußeren Umstände noch alles andere als rosig sind. Jedes Zittern und jede Angst verstehe ich als Abwehrmechanismus des Körpers, der sich gegen die Nüchternheit richtet. Das falsche Versprechen des Alkohols, Dinge zu lösen, den Druck zu mindern oder Dinge im Leben einfacher erträglich zu machen, ist permanent präsent. Aber es ist und bleibt eben ein falsches versprechen, denn der Alkohol löst alles andere, Bindungen, Familien, Karrieren – aber er löst eines eben nicht: Meine Traumata und meine Probleme.

Kunsttherapie. Eine seltsame Veranstaltung. Man bekommt ein Thema vorgesetzt und hat eine halbe Stunde Zeit, ein Bild davon zu malen und am Ende werden alle Bilder in der Runde diskutiert. Meine Malkünste erreichen vielleicht das Niveau eines Drittklässlers! Ein wenig peinlich ist das dann schon, wenn man seine Kritzeleien den anderen in der Gruppe vorstellen muss. Die ersten Male war es aber schlimmer, mittlerweile habe ich eingesehen, dass es auch andere gibt, die nicht so gut mit Stift und Kreide sind. Es ist ja Kunst-Therapie. Und wenigstens für ein paar Momente kann ich das Gedankenkarussell abstellen. Es nimmt Druck von der Seele.

Ich habe heute etwas verstanden. Nämlich, dass ein großer Teil meiner seelischen Schmerzen immer noch vom Alkohol kommt. Da haben sich über Jahrzehnte Mechanismen und emotionale Systeme in mir etabliert, die sich gegenseitig bedingen. Der Seelenschmerz hat sich verselbständigt und ruft die Sucht als Linderung herbei und sei es nur für ein paar Stunden. Die Sucht kennt kein „davor“ oder „danach“ mehr. Die Sucht ist immer da und sie äußert sich in körperlichen wie seelischen Schmerzen. Vieles von dem ist, was die Suchtforscher „Craving“ nennen, das unstillbare Verlangen nach dem Suchtmittel, um das Sein an sich erträglich zu machen. Selbst jetzt nach einem halben Jahr fast ohne Alkohol spüre ich das Craving deutlich. Der Körper bereitet sich selbst Schmerzen, in der Hoffnung, Abhilfe durch den Alkoholkonsum zu erlangen. Mein Hirn „verarscht“ (man verzeihe mir den Ausdruck) sich selbst, um mich dazu zu bringen, wieder zum Stoff zu greifen. Ein Teufelskreis, dessen ich mir jetzt aber bewusst geworden bin. Erst nach Monaten der Entgiftung und Entwöhnungsbehandlung! Da sieht man mal wieder am praktischen Beispiel, wie tief ins System die Sucht verankert ist. Selbst in der Abstinenz führt sie Regie in diesem Drama.

Einen Apfel zum Früstück – auch das hat sich hier so eingebürgert. Ich verzichte auf die leeren Kalorien des Marmeladebrötchens am Morgen – mein Geschmackssinn ist eh getrübt, Long-Time-Corona sei dank. Außerdem ist es gesünder. Aber auf meinen Kaffee möchte ich nicht verzichten. Also ab zum Supermarkt welchen holen. Einige Minuten draußen in der „normalen Welt“. Ich spüre die Krankheit deutlich – und die Medikamente, die mir einen kurzen Kick verschaffen. Ich habe es gelernt, auch das zu genießen. Am Wochenende heißt es nun Sachen packen und hinaus in die Welt. Es wartet noch etwas da draußen. Es ist noch nicht zu Ende, obwohl es sich manchmal echt so anfühlt. Aber irgendwie wird es weiter gehen. Ich hoffe, dass ich meine Therapie gut gemacht habe und habe tiefe Einsichten in mein Verhalten und in meine Psyche gewonnen und bin mir jetzt meiner Krankheiten besser bewußt. Über die Hälfte aller Patienten hier schafft es, ein Jahr nach der Therapie nüchtern zu bleiben. Ich will auf jeden Fall zu dieser Hälfte gehören.

Was habe ich noch, um es mit ins neue Leben zu nehmen? Nicht viel. Aber ich bin am leben! Irgendwie muss ich das immer vor Augen halten, denn der Maßstab in dieser Genesung ist der Tod. Ich jammere auf hohem Niveau, schließlich könnte ich Krebs haben oder eine andere finale Erkrankung. Das ist bei mir nicht der Fall, meine Erkrankung tötet langsam. Aber sie tötet letztendlich doch. Gestern erst habe ich wieder an Selbstmord als Ausweg gedacht, habe es aber geschafft, die Gedanken sehr schnell weg zu drücken. Vorher gehe ich lieber noch einmal den Weg über die Psychiatrie, sollte ich es draußen nicht schaffen. Ich muss ganz gelassen die Dinge so hinnehmen, wie sie nun mal sind. Und dazu gehört es sich einzugestehen, dass ich so schnell nicht wieder zu hundert Prozent gesund werde.

Seltsame Geschichte. Ich hatte heute Morgen so etwas wie einen Anfall. Noch vor einer Stude lag ich da mit Atemnot und Schmerzen in der Brust, mir war schwindelig und schlecht. Ich war kurz davor, zur medizinischen Station zu gehen. Jetzt nach dem Essen, zu welchem ich mich zwingen musste, sind die Beschwerden so plötzlich weg, wie sie gekommen waren. Ich muss das beobachten, denn zum Schwindel gesinnte sich ein Gefühl der Unwirklichkeit, so dass die Realität wie in einem Film an mir vorbei lief. Ich ging quasi neben mir selbst. Einerseits kenne ich die Erfahrung von den Panikattacken, allerdings fühlte es sich diesmal doch anders an. Ich werde jetzt mal ruhen und schaue, ob es mit heute Nachmittag besser geht. Auf jeden Fall nehme ich die Sache ernst, mein Körper teilt mir etwas mit. Hoffentlich bekomme ich eine solche Attacke nicht beim Reisen.

Ich denke nach über meine alte Wohnung. Ich kann unmöglich zurück in mein altes Setting. In dieser Wohnung und sozialen Umgebung hätte ich mich fast umgebracht! Es wäre töricht anzunehmen, dass eine Rückkehr ins Alte irgendwie anders enden würde. Ich würde noch mehr krank als ich es jetzt schon bin – und entweder als Pflegefall mit zig Medikamenten oder aber im Selbstmord aufgrund der Depression enden. Es hilft nichts, die schönste Wohnung zu haben, wenn man darin so krank wird, dass man sich weg machen will und das nicht nur einmal, sondern mehrfach. Zu schwer wiegen die Traumata bezüglich meines Geburtshauses, zu eingefahren sind die sozialen Beziehungen, aus denen ich es nicht mal als Erwachsener geschafft habe, mich zu lösen. Ich war nächstes Jahr dreißig Jahre lang in der selben Wohnung. Zwei Mal ist sie umgebaut worden, einmal von mir, ganz am Anfang, einmal von meinem Vater als ich in der Entgiftung war. Das ist drei Jahre her und schon damals hätte ich die Message verstehen sollen: Raus aus der Umgebung. Raus aus dem Job, der mich krank gemacht hat, raus aus der Wohnung mit all den Erinnerungen an gute und schlechte Tage, weg vom Elternhaus und den damit verbundenen Traumata, endlich. Doch ich habe die Warnung ignoriert und die Krankheit weg geleugnet, nur um ein paar Jahre später noch viel schlechter dazustehen, so dass jetzt die Entscheidung außerhalb meiner Macht liegt. Und dennoch sehe ich auch eine Chance in der Krise, ohne die Krise hätte ich den Absprung in ein echt selbständiges Leben wohl nicht mehr geschafft und wäre als weitere Urne im Familiengrab neben der Andreaskirche in Stuttgart Uhlbach gelandet.

Dass es nicht so kommt, ist nicht ausgeschlossen, darum hämmert ein weiterer Satz in meinem Kopf: „Markus, nutze die Zeit, die du noch hast“ und deshalb schreibe ich, denn die Zeit ist endlich.

Ich will schließlich ein neues, nüchternes Leben beginnen und nicht das alte weiterführen. Und das gelingt nur, wenn ich das Wohnumfeld genauso ändere, wie mein Verhalten auch. Wir haben ja gottseidank in diesem Land ein soziales Netz, welches einen in der hoffentlich temporären Krise auffängt. Ich kann nicht mehr dahin zurück. Es gibt nur den einen Weg, den ich gehen muss. Es ist der Weg Gottes, der mich durch eine harte Prüfung schickt. Ich erinnere mich an das Buch Hiob, in dem der Glaube bis zur Verleugnung getestet wird. Doch am Ende triumphiert Hiob und Gott schenkt ihm alles mehrfach wieder. Daran werde ich mir ein Vorbild nehmen. Hauptsache ich werde wieder gesund und bekomme diese verdammten Anfälle und Suizidgedanken weg. Ich elaboriere hier an Kleinigkeiten und sehe das große Ganze nicht. Mich beschäftigen kleine Alltagssorgen dermaßen, dass sie mir buchstäblich die Kehle zuschnüren und ich nicht frei atmen kann. So ist der Schritt raus aus dem Alten auch ein Schritt in die Freiheit, die ich im alten Zuhause niemals richtig leben konnte, da dort die Familienbande immer im Weg standen und stehen werden und ich so niemals zur richtigen Entfaltung gekommen bin – auch weil ich es den Eltern ja recht machen wollte. Obwohl die sich bis zu guter Letzt ja nicht wirklich mit meiner Befindlichkeit auseinandergesetzt haben. Erst als es schon zu spät war, hat man bemerkt, dass etwas gründlich schief läuft beim Markus. Und jetzt ist er so krank, dass er gehen muss, unter Umständen sogar in eine geschlossene Einrichtung wegen Suizidgefahr. Ich hoffe, dass es so weit nicht kommt, aber die Gedanken daran sind da.

Und plötzlich fällt es mir wie die Schuppen vor den Augen. Es geht hier nicht um eine Therapie am Beginn einer Erkrankung. Es geht um die Therapie am Ende! Es geht nicht um das letzte halbe Jahr. Es geht um die letzten fast 54 Jahre – mein ganzes Leben!

(Posting Teil 4 8.12.22)

In Therapie, Teil 3

Langeweile ist ein großes Thema in meinem Leben. Mir war langweilig in der Schule. Ich war immer der Klassenbeste und erschien in späteren Schuljahren nur noch zu den Klassenarbeiten. Mir war oft langweilig bei der Arbeit – die Probleme meiner Kolleginnen schienen viel zu banal und belanglos als das sie mich wirklich interessiert hätten. Insgesamt ist es so, dass ich schon immer etwas „anders“ getickt habe als meine Mitmenschen. Leider ist der Versuch, mich denen anzupassen sich „auf Normalniveau“ herunter zu bringen, unter anderem mit Alkohol gründlich misslungen. Noch nie hatte ich die echte Chance, meine Talente vollkommen auszuleben. Vielleicht ist es ja noch nicht zu spät dafür. Es werden Chancen kommen. Und ich werde sie nutzen. Vielleicht liegt ja in der Krise tatsächlich die Chance, die unterdrückten Dinge zu verwirklichen, nach denen ich so lange vergeblich gestrebt habe. Anerkennung zu erfahren für das, was man tut. Eine Persönlichkeit entwickeln mit einem Charakter, lieben und geliebt zu werden, auf den ganz unterschiedlichen Liebes-Ebenen, die wir Menschen haben (siehe das Gedicht: Regenbogen der Liebe)

Vieles, was im kranken Zustand nicht möglich war, erscheint jetzt wieder in machbare Ebenen zu gelangen, wie zum Beispiel eine Beziehung führen. Mit der Krankheit im Nacken war dies gänzlich unmöglich! Das zeigt meine letzte langjährige Beziehung deutlich, in der zwei Alfa-Tiere sich gegenseitig gebattled haben, tatkräftig unterstützt durch Alkohol. Eine wunderschöne teuflische Beziehung, geprägt von viel Liebe aber auch Aggression. Und das möchte ich nicht mehr, deshalb bin ich auch absichtlich bis heute Single geblieben.

Ich verliebe mich schnell – und liebe das Gefühl des Verliebtseins, falle aber nicht mehr so einfach auf die Gefühlswallungen herein. Nein, eine Beziehung muss sich auf Gesundheit begründen, nicht auf Krankheit. Und das geht eben nur, wenn ich gesund bin und bleibe.

Wenn ich so zurück schaue: Was alles habe ich getan in der Hochphase? Meine letzte Beziehung, über den Atlantik und über Rassengrenzen hinweg – war das auch Folge der Krankheit? Die Beziehung war geprägt von zwei Alfa-Tieren, beide hoch begabt und hoch intelligent, beide aber genauso manisch-depressiv, so dass die Beziehung hätte in einer ganz großen Katastrophe enden können. War all das der Krankheit geschuldet? Mein erfolgreicher Aufenthalt in Afrika war sicherlich schon von dem Absteigenden Ast der Erkrankung geprägt – eine Art Flucht vor dem Unausweichlichen?

Plötzlich kommt die Erkenntnis über mich, dass all diese Aktionen Resultat der Krankheit waren. Jahre sind ins Land gezogen, und angeblich hat niemand etwas bemerkt? Ich jedenfalls habe mein Leben so noch nie betrachtet – und die neue Sicht erklärt auch einiges. Wenn nun aber das Tun und der Tatendrang zum Besonderen der Krankheit geschuldet war, wie dann damit in Gesundheit umgehen? Soll und muss ich meine Ziele denn ändern beziehungsweise anpassen? Ich denke schon. Keine Sonderaktionen mehr, lieber Markus, das hältst du nicht mehr aus. Es kostet materiell wie spirituell zu viel! Versuche mal, ein „normales“ Leben zu leben und schlage nicht aus, weder nach oben noch nach unten. Ein hehrer Vorsatz, den es nun auch einzuhalten gilt.

Diese Erkenntnis ist neu für mich und trifft mich aus heiterem Himmel. Aber natürlich doch. Ich war jahrelang wenn nicht jahrzehntelang getriebener meiner eigenen Krankheit und habe selbst nichts davon bemerkt. Wow. Das sitzt erstmal tief. Denn im Umkehrschluss heißt das ja, dass ich seit meiner Kindheit nie richtig gesund war! Erst jetzt, im zarten Alter von 53 Jahren erkenne ich das Muster der Krankheit, erkenne ich das Muster des alten Lebens. Jetzt erst verstehe ich, wie eins zum anderen überhaupt kommen konnte und warum ich schließlich hier gelandet bin. Der nächste Therapieerfolg!

Wenn wir jetzt spekulieren wollten, könnte man sich die Frage stellen, hätte man mit der richtigen Diagnose zur richtigen Zeit einiges an Leid verhindern können? Sicherlich ja. Gottseidank ist die Wissenschaft heute weiter als noch vor dreißig Jahren, als man die Anzeichen schon sah und ein mutiger Arzt die Diagnose und Behandlung auch hätte einleiten können. Den hatte ich leider nicht.

Umso erstaunlicher geht es jetzt ganz schnell voran und niemand zweifelt mehr an der Diagnose. Mit heutigem Wissen würde man einen Fall wie mich schon von vornherein anders diagnostizieren und behandeln. Allen, mir inklusive hätte das viel Leid erspart. Aber so ist nun mal unsere Gesellschaft: Im Nachhinein ist man immer klüger.

Noch ist es gottseidank nicht zu spät, um die Fehler der Vergangenheit wieder gut zu machen. Meinerseits nicht und seitens der Gesellschaft auch nicht. Aber wir können allesamt Lehren für folgende Generationen ziehen – das man psychische Erkrankungen nicht als „Spinnerei“ oder „jugendlichen Übereifer“ abtut, sondern qualifizierte Diagnosen früh genug stellt. Mir jedenfalls hätte das spätestens nach dem Koma und der ersten Nahtod-Erfahrung sehr viel geholfen. Das ist jetzt immerhin 23 Jahre her. Ich mag mir kaum vorstellen, wie viele junge Menschen undiagnostiziert sich durchs Leben kämpfen müssen, obwohl Heilung verfügbar wäre – nur das System reagiert eben erst viel zu spät, quasi wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Die Reparaturschäden kosten ein Vielfaches mehr als Prävention es würde. Mir ist es ein Rätsel, warum man so lange mit Behandlung warten muss, bis es (fast) zu spät ist. Ich stelle mir ein Gesundheitssystem vor, welches in Schulen und Universitäten frühzeitig auf Auffälligkeiten in beide Richtungen reagiert. Denn weder ganz oben noch ganz unten lebt es sich auf Dauer Gesund. Als jemand, der beides erlebt hat, halte ich mich durchaus für qualifiziert, hier eine Meinung abgeben zu können.

Sonntag Morgen. Eigentlich Zeit für einen Gottesdienst, doch aber war ich bislang noch nicht so weit draußen vom Klinikgelände entfernt, dass ich eine Kirche hätte aufsuchen können. So halte ich hier meinen kleinen Moment der Einsicht und der Widmung des Spirituellen, indem ich das Schreiben an diesem Brief fortsetze. Ich höre zwar die Glocken, die zum Gottesdienst rufen, aber mich quält eine lähmende Angst, dort auch hinzugehen. Es ist schwierig zu erklären, warum das so ist, aber bislang habe ich es nur zum Carre geschafft, dem lokalen Konsum-Tempel. Ich glaube, da bin ich nicht der einzige. Die Kirche hat es sich auch selbst zuzuschreiben, das Seelenheil suchende sich nicht mehr in ihren Schoß begeben, sondern sich eher dem schnöden Mammon zugehörig fühlen. Das ist schade, den die Botschaft, die sie verkünden, ist ja eine gute. Du als Mensch, egal wie unzureichend du auch sein magst, wirst geliebt von einer höheren Kraft. Ja, was will man mehr? Doch all die Skandale um unsere Kirchenführung haben die Strahlkraft der guten Botschaft verwässert und übertüncht. Ich will ja gerne in die Kirche gehen und zur Kirche gehören, aber eben nicht zu dieser. Da sind eine Menge Reformen überfällig, sowohl bei den Katholiken als auch bei uns Protestanten. Die Gottesdienste sind in der gegenwärtigen Situation eher langweilig und für ältere Menschen attraktiv. Das müsste so nicht sein, was ich ja in Afrika erlebt habe, wo die Kirchen voller Kinder, Jugendliche und Erwachsene sind. Dort ist Kirche Marktplatz, Schule und Gemeindezentrum in einem, oftmals noch gepaart mit der schwierigen Gesundheitsversorgung. Kirche gibt dort den Menschen wenigstens eine warme Mahlzeit nach fünf Stunden Zeremonie. Ich bin in Afrika gerne zur Kirche gegangen, weil dort gesungen und getanzt wird, der Gottesdienst sich an der frohen Botschaft und an der Entwicklung der Gemeinde orientiert. Hierzulande hingegen verkommt die Kirche immer mehr zu einer Veranstaltung einiger weniger gläubiger Christen, die die Zeremonien unter sich ausmachen. Das gemeine Volk bleibt freiwillig außen vor.

Dies hat natürlich mit der Verknüpfung von Kirche und Staat zu tun. Immer noch haben wir es nicht geschafft, Kirche und Staat sauber zu trennen, was zu einer Kirchenmüdigkeit führt, genauso wie viele Bürgerinnen und Bürger des schröpfenden Staates überdrüssig geworden sind. Das müsste aber so nicht sein, wenn man die Liturgie auf das Alltagsleben der Menschen anpasste – und nicht vergeblich das Umgekehrte erwartete. Schon jetzt zeigen sich Risse in der Seelsorge und die beiden großen staatsnahen Kirchen leiden unter Personalmangel. Vor lauter Verwaltung haben die Kirchen häufig ihren Ur-Auftrag, nämlich das Verbreiten des Evangeliums vernachlässigt und nun laufen ihnen in Scharen die Schäfchen davon.

Vielleicht statte ich der Kirche hier nun doch einen Besuch ab. Bis später, ich gehe beten.

Gesagt – getan. Ich habe es tatsächlich geschafft, meinen ersten Gottesdienst hier zu besuchen. Eigentlich wollte ich nur die Kirche besichtigen – eine Hugenottenkirche. Vieles hier ist von den französischen evangelischen Auswanderern geprägt, sogar die Altar-Inschrift ist auf Französisch, dessen ich leider nicht mächtig bin. Eine Pastorin hielt eine moderne Messe für die handvoll Gläubigen im Raum – zu meiner Überraschung waren durchaus auch ein paar junge Gesichter darunter. Die Predigt stand unter dem Motto „Suchet den Frieden“ und kreiste, wie so oft in diesen Tagen um das Thema Krieg, Flucht und Vertreibung. Das muss man den kirchlichen Organisationen lassen – sie engagieren sich vorbildlich in Sachen Flüchtlinge, erst aus dem Nahen Osten und jetzt aus der Ukraine. Die Kirche hier unterhält Kinderdörfer im Sommer für Kinder aus benachteiligten Familien im Strahlungsgebiet rund um Tschernobyl.

Es fühlte sich gut an, wieder in einer Kirche zu sein und zu beten. Das Gefühl der Gemeinde kam auf, die Erkenntnis, dass obwohl Fremder hier, ich niemals alleine zu sein brauche. Die Gemeinde ist auch hier ansprechbar, sollte die Seelen-Not übermächtig werden (was sie im Augenblick gottseidank nicht ist). Auch die Aussicht, meinen bescheidenen Beitrag zur Gesellschaft in einem kirchlichen Setting zu vollbringen ist alles andere als abwegig. Gute IT-ler braucht es schließlich überall und die protestantische Kirche ist für Reformen ja durchaus zu haben.

Es tat also gut, die Seele mal eine Stunde baumeln zu lassen, ab-lassen von dem täglichen Kampf gegen die Krankheiten und nur gespannt den Bach-Kantaten auf der Kirchenorgel zuzuhören. Ich liebe Orgel- und Klaviermusik, ganz speziell am Sonntagmorgen. Ein Tick von mir, vielleicht, aber nach all dem Techno und House Gedröhns tut etwas Besinnliches auch gut. Schließlich nähern wir und demnächst der Adventszeit und die nebligen Novembertage bieten sich zur Introspektion geradezu an. Obwohl heute die Sonne vom strahlenden Himmel lacht. Leider hatte die Kirche keine farbigen Gläser in den Fenstern, so dass ich die Brechung des weißen Lichts, welche man in den großen Kathedralen bewundern kann, nicht sah. Rein und schlicht, konzentriert auf das Wesentliche sollten sie sein, die Hugenotten-Kirchen. Das Weiß der Inneneinrichtung sollte das helle Licht Gottes wiedergeben, ohne den unnötigen Goldschmuck der barocken Katholiken. Und das tat es auch, die Wirkung des Gebäudes, nämlich Konzentration statt Prunk hat ihr Ziel zumindest bei mir erreicht.

Wie üblich habe ich nicht mitgesungen, denn in eigener Einschätzung kann ich nicht singen (obwohl ich online für jemanden auch schon vorsingen musste?). Aber ich kann mich konzentrieren und mitbeten. Selbstverständlich habe ich für mich gebetet, meine vertrackte Lebenssituation. Und die Botschaft, die ich meine bekommen zu haben lautet: Alles ist gut. Ich bin auf dem richtigen Weg. Selbstverständlich ist das Kirchliche Leben ein ganzes Stück weit weg von der Erfahrung eines Nachtleben-Menschen. Doch der Rückzug ins Geistliche kann genauso gut in einem Techno-Klub geschehen, wenn ich mich nüchtern in Trance tanze. Die Location ist eine andere, das Publikum auch, doch die Tatsache, dass man sich dem Unbewussten mit Hilfe der Musik nähert ist dennoch eine ähnliche. Hier der Techno-Bass, dort die Kirchenorgel. Beides machtvolle Töne, größer als der Einzelne. Ob nun tief im Gebet in der Kirche versunken oder tranceartig im Nachtklub tanzend – Ziel ist immer und immer wieder die Öffnung der Seele ins Metaphysische hinein. Irgendwann habe ich mal gesagt: „Techno is my religion and the night club is my church“. Da steckt schon ein ganzes Stück Wahrheit drin.

So wie ich mich mit Hilfe der Musik weg denken kann, so kann ich es auch im Gebet. Nicht umsonst trage ich ein Kreuz am Hals, als Zeichen der spirituellen Verbindung mit der höheren Kraft. Beten hilft! Dafür gibt es sogar wissenschaftliche Belege (siehe Rupert Sheldrakes Forschung und die neuesten Erkenntnisse in Sachen Hirnaktivität und Quantenmechanik). Die Meditation und Vergeistlichung macht etwas mit uns, sie verändert plastisch unsere Hirn-Struktur und mit entsprechender Übung liefert sie uns ein mächtiges Tool, mit dem man gegen Ängste und Süchte arbeiten kann. Häufig betenden sieht man eine Heiligkeit an, eine große Gnade.

Passend dazu heißt das Krankenhaus, in dem ich in der Entgiftung war „Zentrum für seelische Gesundheit“. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir in unserer Gesellschaft zu wenig auf die Seele achten, also das Wohl zwischen Körper und Geist. Oft ist unser Alltagsleben durchbrochen von reinem Kommerz, wir produzieren und konsumieren Dinge, die unserem Seelenheil nicht gut tun. Eine gewisse Rückbesinnung auf spirituelle Dinge täte uns gut, sich kümmern um den Nächsten heißt ja auch sich kümmern um sich selbst. In unserer Gesellschaft kommt dieser Gedanke zu kurz – und die Kliniken füllen sich mit Patienten die unter Burn-out oder Depressionen leiden. Doch keine Klinik der Welt kann dem Menschen bieten, was die Mitmenschen bieten können, nämlich Zuwendung und Liebe. Der professionelle Seelen-Reparaturbetrieb, in dem ich stecke kann zwar Therapien vermitteln und Theorien aufzeigen, letztendlich aber liegt die Ausgestaltung der Alltagswelt jedem Einzelnen. Da kann auch die bestgemeinte Therapie nicht helfen.

Heute mag ich mich nicht besonders. Ich habe Mittagsschlaf gehalten. Und fühle mich nutzlos. Anstatt wichtige Dinge zu tun, sitze ich hier im stillen Kämmerlein (im wahrsten Sinne des Wortes) und tippe diese Zeilen. Sie mögen eventuell einen Wert entfalten, schließlich werden sie veröffentlicht. Und wenn ich mit meinem Schreiben auch nur einer Seele auf ihrem Weg helfen kann, ist schon viel gewonnen.

Bitte verstehe mich nicht falsch, Alte Seele. Mit der Besinnung auf das seelische Wohlbefinden meine ich keinesfalls einen Rückfall in einen Kirchenstaat. Nein, ich meine damit eine Anpassung der modernen Lebenswelt an die Bedürfnisse der Menschen so wie sie sind. Wir haben, und das vor allem im Arbeitsleben, die Spirale der Produktivität überdreht. Das System tickt schneller als die Menschen, die es am Laufen halten, dadurch entsteht Stress und Unbehagen. Das wiederum nagt an unserer Psyche und es kommt zu den oben genannten Folge-Erkrankungen, die das System wiederum mit Institutionen und Heilanstalten zu bessern versucht. Wäre es denn nicht besser, die psychischen Krankheiten schon im Vorfeld zu verhindern, indem man in das System an sich Pufferzonen für die Seele einbaut? Sicherlich. Wir sehen ja sporadische Ansätze wie Sabbaticals oder Teilzeitregelungen. Das ist ein guter Anfang, aber es ist erst der Anfang in eine humanere Arbeitswelt, die auch den älter werdenden Bevölkerungen Rechnung trägt. Schließlich entsteht eine Depression oder eine Abhängigkeit ja nicht über Nacht, sondern das sind Prozesse, die Jahre zu ihrem Entstehen benötigen und von bleibender Natur sind. Ich sehe nicht, dass unsere Gesellschaft das Notwendige tut, um der neuen Humanität sichere Rahmenbedingungen herzustellen. Aber das ist, was unsere Gesellschaften im entwickelnden Westen benötigen.

Denn Maschinen und Computer kennen keinen Humanismus, genauso wenig wie die kollektiv-autoritären Staaten, die in harter Konkurrenz uns wirtschaftlich wie militärisch zu schaffen machen. Auch international ist keine neue UN in Sicht und die Mechanismen des Kalten Krieges finden ihre Anwendung. Dabei betreiben wir Raubbau an unseren Ressourcen, und ich meine hiermit nicht nur die natürlichen, sondern auch die seelischen Ressourcen weiter Teilen unserer Bevölkerungen. Es klafft immer noch ein riesiges Wohlstandgefälle und die sich entwickelnden Länder setzen, zu recht, auf die Lösungen des 20. Jahrhunderts in dem sie bis heute noch nicht angekommen sind. Wir hingegen hätten die Möglichkeit, einen neuen Humanismus zu entwickeln, sehen uns aber durch sinnlosen Krieg und Vertreibung genauso den alten Strukturen des 20. Jahrhunderts gegenüber gestellt. Ein Weg daraus müsste sein, dass sich die entwickelten Länder zu einer anderen Weltordnung durchringen könnten, einer Ordnung, die das individuelle seelische, geistige und körperliche Wohlergehen zum Maß der Dinge macht und nicht nur eine immer weiter steigende Produktivität oder weiter steigende Lebenserwartungen. Lieber ein etwas kürzeres gut gelebtes Leben als ein maschinell erzeugtes Dahinsiechen an „Gesundheits“-Maschinen aller Art. Lieber etwas weniger konsumieren und produzieren, dafür aber mit mehr Qualität statt Menge.

Diese gesellschaftlichen Prozesse sind ja seit einiger Zeit schon im Gange. Der Aufstieg der Grünen Partei zur Volkspartei spricht Bände. Nur sind deren hehre Ziele auch schon, zum Teil zumindest, vom elitären Machtapparat geschliffen worden. In der Substanz zeigt sich Grünes Regierungshandeln kaum unterschiedlich von dem der Parteien zuvor auch. Der herbei gesehnte Systemwechsel ist ausgeblieben, weil sich sowohl Partei als auch System sich adaptiert haben. So verhallen die Gedanken eines neuen Humanismus, der sich vor allem in den linksliberalen Kreisen (zu denen ich mich zähle, wenn auch zur Zeit von keiner Partei repräsentiert) bildet, bedeutungslos, weil nicht im Regierungshandeln vorkommend.

Der von Piketty und anderen vorgeschlagene „Kapitalismus des 21. Jahrhunderts“ ist spätestens mit dem Ausbruch des Ukraine-Krieges und die darauf folgende Inflation wieder in den Schubladen und auf den Festplatten der progressiv-liberalen Denker verschwunden. Das System bedient sich der alten Vorgehensweisen und Denkmuster, die im 20. Jahrhundert die Menschheit in die bis dato größte Katastrophe geschickt haben. Es ist fraglich, ob man mit den Denkmustern des 20. Jahrhunderts die Probleme des 21. Jahrhunderts lösen kann. Jetzt jedenfalls ist das neue Denken gnadenlos ins Hintertreffen geraten angesichts der brachialen Drohung mit roher Gewalt. Wir alle können nur hoffen, dass das nicht die Richtschnur der Politik der nächsten Jahrzehnte sein wird.

Warum schreibe ich Dir diese Zeilen, liebe Alte Seele? Weil es mich beschäftigt. Weil ich es kann. Weil ich es darf. Weil wir gottseidank in einem Land leben, in dem zumindest in der Theorie Meinungsfreiheit herrscht. Weil wir das System von innen ändern wollen, ohne die Brüche einer Revolution. Weil Demokratie und Freiheit des Denkens auch etwas mit dem Seelenheil von Völkern zu tun hat. Weil wir es unseren Kindern schuldig sind, bessere Strukturen als die jetzigen zu hinterlassen. Es ist doch ein schöner Gedanke, einen neuen Humanismus aufleben zu lassen, von mir aus auch etwas sozialromantisch verklärt. Und wenn die Denker nicht mehr denken, wer dann?

Du merkst schon, liebe Alte Seele, das Politische ist aus mir nicht weg zu bekommen. Auch meine nächste Tätigkeit wird ein wenig das berücksichtigen müssen. Zumindest im privaten Gespräch. Ich sehne mich nach akademischer, teilweise auch hitziger Debatte um das bessere Sein. Wahrscheinlich muss ich das tiefer gehende philosophische Denken in Geschichten verpacken, um es dem Publikum zugänglich zu machen. Adaption und Anpassung auch hier. Ich könnte ja einen Polit-Thriller schreiben (sic!) Nein, da schreibe ich doch lieber einen Liebesroman. Ha.

Diese Dinge aber sind wichtig, denn sie bestimmen unser Leben, auch im Alltag. Die Regeln und Normen, die wir uns als Gesellschaften normativ setzen, beruhen auf Glaubenssätzen und Ideologien. Auch den neuen Humanismus, den ich vertrete, ist so ein Gerüst aus Glaubenssätzen. Ich nehme viel Gutes aus der verblichenen Sozialdemokratie, aus ihren Wurzeln. Leider war sie eine Bewegung des 19. und 20. Jahrhunderts und hat den Sprung in die digitalisierte Welt des 21. Jahrhunderts nicht richtig geschafft. Ebenso nehme ich Teile aus der Gründungszeit der liberalen Demokratien, eine Bewegung des 18. Jahrhunderts, welche sich nur noch in kargen Resten unserer kodifizierten Glaubenssätze widerspiegelt. Beiseite, weil durch die Geschichte als untauglich erwiesen, lasse ich die kollektivistischen Modelle des Sozialismus und Kommunismus. Dasselbe gilt für nationale Theorien, die in Zeiten globaler Macht- und Wirtschaftssysteme ebenfalls an Bedeutung verlieren werden und sich trotz einer gegenwärtigen Renaissance wohl kaum mehr auf Dauer durchsetzen können. Zu kompliziert ist die Welt geworden, zu offensichtlich die Vorteile der Kooperation gegenüber der Konkurrenz, das zumindest kleinere Länder sich eher im Verbund auf der Weltbühne präsentieren als als Nationalstaaten. Die Europäische Union ist da erst der Anfang, auch in Afrika gibt es solche Unionsbestrebungen und selbst in Asien redet man schon davon.

Es tut gut, diesen Gedanken freien Lauf zu lassen. Mein Hirn funktioniert also noch (sic!) zumindest insoweit, dass ich diese Gedanken, die ja der Normalsterbliche nicht unbedingt jeden Tag denkt, formulieren kann. In wie weit ich es dann schaffe, diese Gedanken auch gesellschaftlich zu platzieren, steht auf einem anderen Blatt.

Wie gesagt, verdichtet in Dichtung. Verpackt in Charaktere und in Geschichten vielleicht? Wir werden sehen. Auf jeden Fall sind sie schon mal von der Seele geschrieben.

Mittwoch. Es geht voran. Mit Hilfe der Sozialberatung hier vor Ort haben wir angefangen, den finanziellen Sumpf auszutrocknen, den die Sucht hinterlassen hat. Alles klärt sich langsam, altes längst Vergessenes wird nochmals in Angriff genommen und wiedergekäut. Der Finger liegt da in einem Wunden Punkt – und ich spüre die Krankheit deutlich in den letzten Tagen. Schließlich waren solche Dinge in der Vergangenheit immer so genannte „Trigger-Ereignisse“, die mich tiefer in die Sucht geführt haben, was mir hier in der geschützten Klinik-Umgebung nicht passiert. Hoffentlich, denn ich bin gerade in einer Situation, krankheitsbedingt, welche wir „trockenen Rückfall“ nennen. Nach der Konfrontation mit der Wirkchkeit wird nun die Willensstärke abgerufen, eben nicht mehr in alte Denk- und Verhaltensmuster zu fallen. Gerade jetzt sind die erworbenen Skills und Tools gefragt, denn ein Absturz in das Vergangene würde für mich wohl das Ende bedeuten. Die Narben an meinen Händen erzählen die Geschichte davon. Jedes Mal, wenn ich mich erinnere, wie es ist, alleine zu trinken, schaue ich auf das mahnende Mal, die Narbe am Arm, und sehe das Bild vom an die Wand spritzenden Blutes – und denke mir Markus, DAS willst du nie wieder!

Jetzt sind wir an einem ganz entscheidenden Punkt in der Entwöhnung: Die alten Reflexe kommen hoch aus dem Unterbewusstsein und versuchen sich, im Alltagsleben zu manifestieren. Das Großhirn, ergo der Verstand sendet aber ein widersprüchliches Signal, nämlich das der Abstinenz. Dieser Widerspruch erzeugt einen inneren Konflikt, der an der Psyche nagt. Das Gute an der Sache ist, dass je mehr Zeit des Nicht-Konsumierens vergeht, dieser Widerspruch im Gehirn immer kleiner wird, und am Ende das Großhirn über das auf die falschen Programmierungen des limbischen Systems obsiegt – und die Trockenheit sich manifestiert. Die alte Gedanken-Autobahn des Konsumenten wird durch eine neue ersetzt und fest zu betoniert. Und das erfordert eben einige Zeit. Vor einem Jahr ohne Suchtmittel würde ich höchstens von einem labilen Zustand sprechen, erst nach zirka einem Jahr rechne ich mit einer stabilen Abstinenz.

Auf der einen Seite tut es verdammt weh, sich mit den alten Ereignissen zu konfrontieren. Auf der anderen Seite ist Konfrontation das Beste Mittel gegen die aufsteigende Panik, die dann in Schwindelanfällen mündet, weil das Hirn mit zu viel(!) Sauerstoff versorgt wird (man hat mir für den Fall einer aufsteigenden Panik empfohlen, in eine Plastiktüte zu atmen, um den Sauerstoffgehalt im Hirn wieder zu reduzieren, daneben benutzte ich japanisches Minzöl zum inhalieren – und es hilft tatsächlich). So kann ich eine Panik unterdrücken. Das mulmige Gefühl der Aufsteigenden Angststörung kann ich jedoch derzeit noch schlecht bekämpfen, so dass hier noch mehr Übung nötig ist.

Bewerbungen muss ich schreiben für eine Aufnahme in eine so genannte Adaption, sprich die Möglichkeit, in einer Gruppe von Leidensgenossen wieder langsam an das normale Alltagsleben hingeführt zu werden. Alternativ kann ich es zuhause mit Hilfe des Sozialdienstes versuchen oder aber mit einer ambulant geschehenden Nachsorge. Ich neige zu ersterem, da vieles in der Gruppe einfacher zu bewerkstelligen sein kann. Es muss eben die richtige Gruppe sein. Da vieles dieser Optionen über kirchliche Träger läuft, verlasse ich mich ganz auf die Kompetenz meiner Suchtberaterin. Sie ist Profi und geht mit solchen Fällen tagtäglich um. Ich bin nur Profi, was meine eigene Erkrankungen angeht.

Es passiert etwas mit mir. Zum ersten Mal in der Therapie kann ich loslassen! Ich habe keine Lust, die Nachrichten zu lesen, die ich bekomme oder was in der Welt passiert, denn es berührt mich in meiner jetzigen Lage eh nicht. Ein Gefühl der Befreiung macht sich breit. Mit geht es gut hier in meiner geschlossenen kleinen Welt und draußen kann passieren, was will. Ich werde definitiv besser schlafen nach all den anstrengenden Papierkram- und Therapiesitzungen. Es ist auch der neuen Achtsamkeit geschuldet, dass ich so genau auf das achte, was in mir vor sich geht. Ich war sehr erschöpft diese Tage und man sieht mit die Erschöpfung auch an. Nicht zuletzt, weil ich auf falsche Medikamente eingestellt bin. Hoffentlich klärt sich das mit der neuen Diagnose bald. Die Arbeitstherapie habe ich mit Bravour bestanden, so dass meine Lösungen der Aufgaben nun als Musterlösungen dienen und die Rentenversicherung einen positiven Bericht über meine Arbeitsfähigkeit erhält. Die nämlich ist besser als erwartet und ein nine to five Job wäre durchaus machbar, wären da nicht diese unsäglichen Panikattacken von denen ich weiß, dass sie nur illusorisch sind, die aber das Alltagsleben immens erschweren. Was ich brauche, ist eine geschützte Umgebung, in der ich mich frei entfalten kann. Talent und Fähigkeiten sind da, jetzt müssen die psychologischen Hindernisse, die ein normales Arbeiten verhindern, beseitigt werde. Und dann wird alles gut. Nicht zuletzt deshalb habe ich heute ein Bewerbungsschreiben in eine Adaptionsgruppe in Stuttgart verfasst.

Mich zieht es zurück in die Heimat, in Hessen und im Raum Frankfurt möchte ich nicht bleiben. Ich fühle mich hier fremd. Nicht schlecht aufgenommen, nein, aber es fehlt hier das besondere Flair meiner Süddeutschen Heimat. Es ist schwierig zu beziffern, eher nur ein Gefühl, ein Heimatgefühl, welches mir hier fehlt.

Und dennoch habe ich eine Heimfahrt vor der Therapie-Beendigung abgelehnt. Es ist einfach noch zu unsicher, eine solche Reise in die Vergangenheit zu machen. Und am Wochenende könnte ich eh meine Sachen nicht erledigen. Da bleibe ich doch lieber bis zum Therapie-Ende hier, zumal sich ja in mir Dinge gerade jetzt regen und ändern und die Gewohnheiten einer neuen Persönlichkeit sich entwickeln. Die Loslösung aus den alten Gewohnheiten ist immer noch im Gange, zumal ich ja in meinem Überschwang etliche Lücken und Löcher in meine schon verloren geglaubte Persönlichkeit gerissen habe. Ich möchte diese neue Gelassenheit und die wieder erstarkende Persönlichkeit nicht mehr missen. Auch das, wenn man so will, ist ein Therapieerfolg.

Wohin die Reise medizinisch geht, ist zur Zeit noch nicht klar, klar ist aber, dass die dem Alkoholismus zugrunde liegende Störung weiterer Behandlung im abstinenten Zustand benötigt. Das ist für mich überlebenswichtig, denn alleine die psychische Störung, die ich seit dreißig Jahren oder länger mit mir herumtrage, ist lebensgefährlich. Die Suizidrate bei dieser Diagnose beträgt 30%. Das heißt, alleine die Grunderkrankung legitimiert eine Behandlung, die jenseits der Suchtentwöhnung liegt. Die Gefahr eines „Unfalls“ potenziert sich im Zusammenhang mit einem Suchtmittel. Auch deshalb ist gerade jetzt eine Heimfahrt auszuschließen.

Körperlich geht es mir so la la. Wie gesagt, die seditiernden Medikamente wirken dämpfend und ich leide unter Schwindelanfällen. Mein Kreislauf geht ab und zu in die Knie. Der Blutdruck ist trotz Dosissteigerungen immer noch sägend hoch. Ich schlafe gut, bis zu zwölf Stunden die Nacht, habe aber Schmerzen in den langen Nervenbahnen beim Einschlafen. Die Polyneuropathie lässt grüßen. Ich leide unter Schmerzen nachts, die künstliche Hüfte macht sich bemerkbar, genauso das linke Knie. Das Alter kommt eben nicht von alleine und ich spüre die Jahre des Raubbaus am eigenen Körper deutlich. Das wird auch nicht mehr besser werden, die Jahre der jugendlichen Unbeschwertheit sind für mich nun endgültig ad acta gelegt. Auch hiermit gilt es jetzt umgehen zu lernen. Nämlich der Tatsache, dass diese Beschwerden nun endgültig Teil des Alltagslebens geworden sind.

Selbstverständlich geht es mir abstinent sehr viel besser als trinkend. Kein Durchfall mehr, kein morgendliches Übergeben, kein Zittern, keine Krämpfe, keine Schlaflähmungen oder lock-in Zustände. Da hat sich in den Wochen der Therapie vieles zum Guten entwickelt. Hoffentlich bleibt das auch so.

Zurück zu dem, was in mir passiert. Manchmal denke ich, wer will das alles lesen. Schließlich ist es nur einer von hunderte, wenn nicht gar tausenden Genesungsberichten. Aber ich denke, eingebunden in einen bemerkenswerten Lebenslauf und garniert mit einer tragischen Lovestory wird auch dieser Text sein Publikum finden. Und schließlich war ich so oft dem Tode nah, dass alleine das schon Aufmerksamkeit auf sich ziehen wird. Und schließlich bin ich absolut offen und ehrlich in diesem Brief und Bericht.

Also zurück in jenes in mir. „Introspektion ist nicht möglich“, lautet ein Merksatz in der Psychologie. Das heißt, von außen ist eine Innenansicht in die psychischen Vorgänge eines Menschen nur durch Selbstbeobachtung und Selbstbetrachtung möglich. Und selbst diese täuscht, denn die muss die Filter des Bewussten durchlaufen, um an die Außenwelt zu gelangen. „Wir müssen die Emotionen im Hinterkopf durch all die Hirnlappen hindurch ins Vorderhirn jagen“, um zu einer rationalen Bewertung der inneren Vorgänge eines Menschen zu kommen. Diese Rationalisierung jedoch filtert die Aussagen des Innenlebens durch die Schablone der Veranlagung des Hirns sowie durch das Erlernte – und entzieht sich so einer vergleichenden Betrachtung.

Deshalb versuche ich in meinen Texten Dinge so ungefiltert wie möglich wiederzugeben. Um sie dann dem Verstand zugänglich zu machen. Erschwerend kommt jedoch hinzu, das bewusste Introspektion, das achtsame Hineinhören in sich selbst seinerseits gefiltert wird, nämlich durch die eigenen Wahrnehmungsfilter, so das instinktives Handeln sich oft nicht rational bewerten oder analysieren lässt. Die Gewohnheits-Datenautobahnen brennen sich durch Erfahrung so tief in unser unbewusstes Hirn ein, dass wir selbst oft Schwierigkeiten haben, sie zu erkennen, geschweige denn zu erklären. Nun kann ich aufgrund meiner Erfahrung, nämlich positive wie negative Extremausprägungen von Emotionen und Verhaltensweisen berichten, vielleicht sogar etwas besser als andere Menschen, die diese Ausbrüche nicht erleben und dennoch in ihren eingeübten Verhaltensmustern genauso „gefangen“ sind.

Ich zum Beispiel habe es gelernt, die künstlichen Downs, induziert durch die Medikamente zu genießen. Das Gefühl des Abgehobenseins, den leichten Schwindel, das Gefühl nicht ganz bei mir zu sein, selbst die vegetativen Veränderungen im Körper wahrzunehmen ohne sie steuern zu können, das Gehen, welches eher an ein langsames Dahinschweben erinnert, die Zeit, die unfassbar schnell vergeht. Das Eingeständnis, dass in diesen Momenten ich nichts dagegen tun kann, sondern mich hinsetzen bzw. hinlegen muss und es einfach vorüberziehen lassen. Die Machtlosigkeit des bewussten Ichs gegenüber dem Unbewussten hinzunehmen und zu akzeptieren ist wichtig für mich im Laufe dieser Genesung geworden. Die Frage, die dabei auftritt ist natürlich: Wer oder was steuert denn diese unterbewussten Prozesse, auf die wir mit Therapie und medizinisch einwirken wollen? Das Freudsche Über-Ich?

Die beschriebenen Prozesse laufen üblicherweise automatisiert ab und all die Übungen und Skills und Tools die wir hier lernen, zielen darauf ab, diese Automatismen zu beeinflussen. Dass das funktioniert, weiß jeder, der schon einmal in einem Land mit Linksverkehr gefahren ist. Das automatisierte Rechtsfahren muss vom Verstand übertüncht werden, was auch gelingt (auch wenn ich mich zumindest des öfteren auf der falschen Straßenseite wiedergefunden habe) denn dahin zwingt mich das erlernte, automatisierte Rechtsfahren. Erst nach einiger Übung gelingt es, auch unbewusst die „richtige“ Straßenseite zu befahren. Das Hirn hat also nach einiger Zeit gelernt, den Automatismus um zu steuern. Genau so ist es mit den unbewussten Prozessen z.B. in einer Suchterkrankung auch. Der automatisierte Griff zur Flasche oder zum Joint muss wegtrainiert werden, wie das Rechtsfahren im Linksverkehr auch.

Nun ist das in der Gesellschaft im allgemeinen sehr viel schwieriger als im streng regelgeleiteten Straßenverkehr. In der Kneipe zugeprostet wird mit rechts und links gleichermaßen. Rauchen kann man mit beiden Händen. Insofern sind diese gesellschaftlichen Automatismen weitaus schwieriger neu zu Konditionieren. Es ist machbar, aber erfordert viel Zeit und viel Übung. Vor allem, wenn es um seelische Gesundheit geht.

Ich möchte noch einen Augenblick bei der Seele verbleiben. Seele, was ist das? Kann man sie sehen? Messen? Riechen? Schmecken? Betasten? Ist sie unser Verstand, unser Geist? Nein, sie bleibt sowohl der körperlichen Erfahrung wie auch der geistigen Kontemplation unzugänglich. Was passiert aber, wenn zwei Seelen sich begegnen? Die Seele hat eine riesige Bedeutung für unser menschliches Dasein. Es ist genau die Tatsache, die uns vom Tier als auch von der Maschine unterscheidet. Hat ein Regenwurm eine Seele? Oder ein Roboter? Wohl kaum. Der Mensch hingegen eben doch. So tut er im Seelischen Dinge (empfängt und sendet Liebe und äußert Gefühle via Sprache und Denken), die ihm weder körperlich noch geistig scheinbar einen Vorteil bringen. Und wie bei allem lässt sich die gesunde seelische Verfassung eines Menschen am besten an der Erkrankung festhalten. Durch das abnormale wird die Norm erst konstituiert.

Die Seele und das Seelenheil sind mir im Laufe dieses Lebens sehr wichtig geworden. Als ich von zwanzig Jahren darüber schrieb, waren es die wunderschönen Emotionen des Verliebtseins, welches die Texte und Gedichte prägte. Das ist auch heute noch teilweise so, dazu gekommen ist aber diese neue Ebene, die Seelenebene. Sie geht über das einfache zwischenmenschliche hinaus, sie projiziert Liebe in einer anderen (höheren?) Ebene, sie transzendiert und wirkt sowohl über die Emotion als auch über Taten. Die Augen sind der Spiegel der Seele, sagt man. Das ist aber nur ein Teil der Wahrheit, denn die Seele funktioniert auch ohne direkten Blickkontakt hinaus. Man kann die Seele eines Menschen oder höheren Tieres also fühlen. Nur wir wissen nicht genau, wie. Der Rettungsruf SOS heißt „Save Our Souls“ und nicht „Save Our Minds“ oder „Save Our Bodies“ Was also ist damit gemeint? Ein Priester nennt sich „Seelsorger“ und nicht „Geistsorger“ oder „Körpersorger“. Gewiss, diese Begriffe sind historisch und stammen aus Zeiten, in denen die Seele als religiöser Standardbegriff galt. Doch was ist die Seele nun ohne diesen historischen Kontext?

Auf jeden Fall ist die Seele das Organ der Liebe. Ohne Liebe verkümmert der Mensch, ohne Seele wird er kalt wie eine Maschine. Seelen schaden sich nicht, zumal wenn sie sich angezogen fühlen. Die Seele ist eines der letzten Großen Geheimnisse der Wissenschaft, und unsere Psychologie ist erst zweihundert Jahre alt. Seelen hingegen gibt es seit Jahrtausenden. Die Frage ist, ob diese Seelen über das Körperliche und Geistige hinaus existieren, als Energien oder als Kraft-Felder. Ich finde das jedenfalls eine spannende Theorie.

Zumal es in der Wissenschaft sehr große Hinweise auf Seelentätigkeit gibt. In der Theologie sowieso aber auch in der Medizin, wo der Placebo-Effekt den Einfluss nicht chemischer Prozesse auf Heilung dokumentiert. Die Seele wirkt, sie kann heilen, sie kann aber auch erkranken. Ein spannendes Feld, diese Seelenlehre.

Samstag. Es schneit. Der erste Schnee in diesem Winter der Unsicherheit. Leider schmilzt er sofort weg, wenn er auf den nassen Boden trifft. Typisches November-Wetter. Wie die Flocken eine schöne Weihnacht versprechen, dem Nass auf den Straßen aber nicht standhalten können, so schmelzen auch meine Hoffnungen für ein besseres Leben in dem schmutzigen Sumpf der Vergangenheit dahin. Ich versuche, alles richtig zu machen. Dennoch breitet sich ein Gefühl der Unzulänglichkeit aus, ein Gefühl der Machtlosigkeit vor der Krankheit. Ich habe gut geschlafen, bin aber innerlich unruhig, träume wirr und unvollständig, keine der Botschaften aus meinem Unterbewussten sind klar. Es sind nur Gedankenfetzen, die in eine wie auch immer geartete Zukunft schauen, viel Gutes Gefühl dabei, vieles aber durchzogen von einer nicht genauer definierbaren Furcht. Furcht vor was? Vor dem Neuen? Schlimmer als das Alte kann es nicht werden. Was soll bitte schlimmer sein, als den eigenen Abgang erleben zu müssen?

Deshalb betrachte ich die Zukunft mit etwas Spannung und mit mulmigen Gefühle im Bauch. Ich weiß die Institutionen der Gesundheitsfürsorge hinter mir und realisiere die Wichtigkeit dieser Auszeit hier. Eine Auszeit vom Werdenden, das retardierende Moment, das im klassischen Fünf-Akt-Schema der griechischen Tragödie dem Ende, der Katastrophe (hier im Sinne gemeint von Lösung) existiert.

Ich habe Hunger – und kann schlecht essen. Ich habe Durst und trinke zu wenig, Ich will rennen, doch meine Hüfte behindert mich, Ich will frei denken, doch die Gedanken kreisen um Profanes. Ich will lieben, doch die Liebe ist fern. Ich will sein, doch das Sein ist eine Qual, gesprenkelt mit ein paar Funken Hoffnung. Mein Verstand ist klar, meine Emotionen sind betäubt, mein Blick ist wach aber ängstlich.

Ich habe einen Tunnel malen dürfen gestern in der Kunsttherapie. Natürlich malte ich den Nahtod-Tunnel, den ich einige Male schon durchflogen bin, durch die Farben hinein in das Licht. Das weißeste, hellste und schönste Licht überhaupt. Ich durfte mein Gemälde vorstellen und berichtete davon. Hier in der Klinik gibt es einige Patienten mit ähnlichen Erfahrungen, so dass man daraus fast eine eigene Gruppe formen könnte. Ich bin also nicht alleine mit diesen Grenz-Erfahrungen – nur wird darüber meines Empfinden nach zu wenig gesprochen. Solche Ereignisse verändern Menschen, verändern die Wahrnehmung der Wirklichkeit. „Wie bist du zurückgekommen?“, wurde ich gefragt. „Voll der Dankbarkeit und Demut“, antwortete ich. Die Schilderung eines real existierenden Jenseits bewegt die Gemüter, schließlich ist es eine Reise, auf die wir alle einst begeben müssen. Und sie relativiert so vieles. Plötzlich bekommt das Spirituelle eine ganz andere Bedeutung als zuvor. Plötzlich ist da dieses Etwas, welches es zu erkunden und zu erforschen gilt. Was für die meisten Menschen ein Abstraktum ist, ist für mich fühlbare Realität. Ob nun im Traum, in Trance oder einfach nur in einer Eingebung, immerzu grenzt das Metaphysische an das Sein, manchmal überlappt es sich auch. Das sind dann diese besonderen Momente, von denen auch mein Schreiben zehrt.

Ich lese viel in diesen Tagen. Es tut gut, sich von den anderen Autoren Dinge abzuschauen. Und ich esse viel Süßes – mein Zahnarzt wird es mir danken. Immerhin bin ich weg von der Sucht – seit fünf Monaten jetzt, und immer noch wirft sie täglich ihre Schatten in mein Leben. Du wirst dein ganzes Leben damit konfrontiert sein, hämmert es in meinem Hirn. Die Krankheit ist nicht heilbar, man kann sie aber stoppen. Das zu verstehen erfordert tägliche Übung. Die Gewissheit, an einer tödlichen Erkrankung zu leiden zwingt einen zum gründlichen Nachdenken, auch über die eigene Endlichkeit und relative Unbedeutsamkeit des Einzelnen. Aber wenn ich mit diesem Text auch nur eine Seele erreiche und Dinge zum besseren verändern kann, hat sich all die Mühe schon gelohnt.

Sonntag. Heute mal keine Kirche, sondern Wäsche waschen. Es ist kalt geworden und es hat geschneit. Im Sommer bin ich hierher gekommen, im Winter gehe ich. Es war ein kurzer Herbst hier in der Klinik und ich habe von all dem Jahreszeitenwechsel kaum etwas mitbekommen, so war ich mit mir selbst und dieser Therapie beschäftigt. Ich fühle mich gut, aber etwas matt von den Medikamenten – und der Ausschlag in meinem Gesicht, der von der allgegenwärtigen Corona-Maske kommt, hat sich wieder verschlechtert. Also renne ich hier mit hochroten Backen herum. Vielleicht sollte ich eine Befreiung von der Maske beantragen, angeblich kann man das tun. Aber zum Schutze meiner selbst und anderer trage ich die Maske doch gerne und nehme die roten Flecken in Kauf. Gleich ist wieder Mittagsessen, und täglich grüßt das Murmeltier.

Heute ist Geburtstag meiner Tochter, herzlichen Glückwunsch von hier aus. Ich kann mich sehr gut erinnern an den Tag vor 26 Jahren, als Du das Licht der Welt erblickt hast, mein Kind, mein Wunschkind, meine Partnerseele, ich liebe Dich über alles. Auch wenn sich unsere Wege getrennt haben, und das ist auch gut so, denke ich an Dich täglich. Du musstest meinen Absturz ja nicht aus nächster Nähe erleben, gehst Deinen eigenen Weg. Ich hoffe inständig, dass ich Dich gut darauf vorbereitet habe. Ich denke aber schon und lasse Dich frohen Mutes ziehen. Du bist im Gebet bei mir.

Heute also keine Hugenotten-Kirche sondern eher stille Andacht im Zimmer und vor dem Rechner, der unermüdlich meine Worte schluckt. Wie ein treuer Kumpane lässt er ohne Widerstand die Prozedur des täglichen Schreibens über sich ergehen. Sommers wie Winters ist er für mich da und nimmt meine Ergüsse klaglos hin – so wie meine Leser hoffentlich auch. Schließlich möchte ich mit diesem Tagebuch und Brief zum Denken anregen.

Gestern habe ich stundenlang meditiert und mein Hirn tatsächlich in einen seltsamen Modus gebracht. Dabei habe ich eine teilweise Lähmung der Extremitäten erlebt und die Unfähigkeit, mich an irgendwas zu erinnern. Ich war komplett im hier und jetzt. Ich war wach, aber nicht hier. Mein Gehirn hatte abgeschaltet, das Kopfkino hatte eine Pause gefunden und die Gedanken kreisten nicht mehr um die allgemeine Lage oder über für mich belanglose Nachrichten aus aller Welt. Zum ersten Mal konnte ich die Konzentration nur auf mich und den Augenblick lenken. Mir ist bewusst, das mein Hirn dabei Höchstleistungen vollbringt, jedoch auf einer Ebene, die uns so einfach nicht zugänglich ist. Aber es war ein gutes Gefühl, zumal ich die Angst vor dem Zustand endlich ablegen konnte. Die Angst nämlich, nicht wieder in das hier und jetzt zurück zu finden. Jedes mal, wenn ich in Trance gehe, begleitet mich diese Angst, die Angst sich komplett in die Meditation fallen zu lassen. Es macht etwas mit mir. Was allerdings genau, bleibt mir ein Rätsel. Aber ich habe Trost gefunden und um Vergebung gebeten und erhalten. Auch ein Licht habe ich am Rande gesehen, bin allerdings diesmal nicht in das Licht eingetreten, sondern habe es vom Rande aus beobachtet. Schön war es, wie immer, warm und freundlich. Ich fühlte den Hang meiner Seele, diesen Körper verlassen zu wollen und in die spirituelle Sphäre einzutreten.

Immer wieder bin ich erstaunt darüber, wie viel Zeit diese Innenschau benötigt. Und hier habe ich tatsächlich die Zeit, diese Innenansicht zu er-leben. Ich spüre den Drang zum Metaphysischen und stelle mir vor, dass ich in diesem Leben auch beruflich mich diesen Dingen widmen muss. Das heißt, meine neue Beschäftigung muss sich in irgendeiner Art und Weise mit diesen Dingen beschäftigen – oder aber mir den Raum und die Zeit lassen, dieses zu tun. Meine Erfahrungen sind zu wertvoll, um sie einfach im Äther verklingen zu lassen, ohne die Resonanz auf die Schwingungen zu erzeugen und zu ermöglichen, wie es meine Seele jenseits des menschlichen Alltagslebens tut.

Es tut gut, in die Stille zu hören in das Rauschen der Welt, ohne selbst ein Teil oder ein Getriebener dieses Rauschens zu sein. Es tut gut zu erfahren, dass es jenseits unserer materiellen Vorstellung andere Sprach- und Kommunikationsräume gibt. Es tut gut, Liebe zu erfahren und geben zu können. Und das auf hohem spirituellen Niveau. Jetzt verstehe ich auch, warum ich diese Auszeit brauchte. Um mich selbst besser, oder von einer neuen Seite kennen zu lernen. Der Aufenthalt hier dient also nicht nur der Abstinenz von der Sucht, er ist auch Teil eines Selbsfindungsprozesses.

Zum Arbeiten bin ich fit, laut Arbeitstherapie, doch sollte diese Arbeit zumindest etwas beinhalten, was ich im Laufe dieses Prozesses gelernt habe. Nicht wieder ein Verstellen des Selbst, nicht wieder eine Rolle, die ich weder spielen kann noch will. Eine Tätigkeit, in der mein Können (was ja beachtlich sein soll) und meine Fähigkeiten zum Wohle aller unter Beweis gestellt werden kann. Die zwanzig plus Jahre in der Politik, mit tiefer gehenden Gedanken sollen ja nicht umsonst gewesen sein, auch wenn ich im Augenblick mehr als Bittsteller denn als Macher auftreten muss. Das hat das Denken ja nicht gestoppt. Im Gegenteil, durch die Nichtbeschäftigung im Außen hat sich die Beschäftigung mit dem Innern ja nur noch vermehrt. Auch durch die Grenzgänge zwischen Alltag und Meditation, zwischen aktivem Handeln und Introspektion, zwischen krank und gesund und zwischen Leben und Tod haben mein Denken verändert. Ich bin viel bescheidener geworden, lade nicht jedes Problem in der Welt auf mein Gewissen und wirke da, wo ich eben nun kann, mit der Hilfe anderer auch. Auch dafür bin ich zur Dankbarkeit verpflichtet, dem Personal hier, genauso wie den mir verbleibenden Freunden und meiner Familie, die es mit mir weißgott nicht einfach hat(te).

Nun schält und häutet sich der Kern des Seins. Wie in einer Metamorphose schält sich etwas heraus. Das dabei Substanz verloren geht, ist klar. Substanz, die allerdings geprägt war von falschen Vorstellungen und Wünschen, die ich von anderen adaptiert hatte. Man will es ja jedem recht machen und dabei macht man so vieles falsch, weil man sich seiner eigentlichen Aufgabe verschließt und verbohrt dem Ideal anderer nachhängt, anstatt sich sein eigenes Ideal zu bauen und seine eigenen Ziele zu verfolgen.

Das alles habe ich erfahren in meiner Innenschau, in meiner Selbsthypnose, in meiner Autosuggestion, in meiner Trance, in meiner Meditation. Unbewusste Prozesse an die Oberfläche kommen lassen, ohne dabei von diesen beherrscht zu werden ist die Kunst für ein weiteres, tieferes Dasein, in das ich die ersten Schritte unternommen habe. Ich hoffe ja, dass das ausgelebte tiefere Dasein nicht zu sehr von Folklore oder anderem gesellschaftlichen Brimborium begleitet sein wird. Mit Goethes Worten, ich suche einen Ort, wo ich sein darf, Mensch sein darf, und nicht als minderwertiger Teil einer Machtmaschine fungieren muss.

Freies Denken kann gefährlich sein, in anderen Gesellschaften noch viel mehr als bei uns. Doch kann ich die Lücken im Gesellschaftsgefüge nutzen, um dort eben befreit mir meine Gedanken zu machen. Ob sie dann gehört werden, steht auf einem ganz anderen Blatt.

Ich schreibe diese Zeilen auch etwas in Trauer, denn ich habe von meinen Großeltern geträumt, von einer noch heilen Welt, in der ich zeitweilig leben durfte. Ich bewundere jeden, der ein Teil heile Welt leben darf. Das ist gut so. Übrigens ein Grundpfeiler meines liberalen Denkens: Die Menschen machen sich schon das gute Leben wenn man sie nur lässt. Da braucht es keinen Allumfassenden Patriarchen, schon gar nicht in Form eines Staates, um ihnen zu erklären, was gut für sie ist. Hilfe, ja, so wie jetzt in meinem Fall. Hilfe kann der Staat geben. Aber steuern sollte er die Leute nicht.

Aber es war doch gut, Dein Leben, warum hast Du es dahin gegeben? Nein, das ist nur teilweise wahr. Die Fotos der „glücklichen“ Zeit zeigen nur die halbe Wahrheit. Sie zeigen nach außen ein schönes Bild, vieles sieht im Nachhinein aus wie eine Idylle (der stolze Vater mit dem glücklichen Kind). Doch Kopfschmerzen und Unwohlsein sieht man auf den Bildern ja nicht. Ich kann mich an vieles erinnern, Situationen, die zwar nette Fotos hervorbrachten, in denen ich mich aber hundeelend fühlte. Lange Zeiten in meinem Leben, was ich zwar gelebt habe, aber welches nicht mein Leben war, sondern immer nur die Erwartungshaltung anderer verkörperte. Das ist nun zum jähen Ende gekommen. Ich will diese Art von Kulissenleben nicht weiter führen und lasse nun alle Masken fallen, um das wahre Gesicht des Markus zu leben, das wozu er einst geboren wurde. Um Dinge zu er-leben, zu be-greifen, zu ver-stehen. Und dann um mit-zu-teilen.

Ich spüre etwas aufsteigen in mir, abseits von Wut oder Scham oder gar Mitleid. Noch bin ich hier, noch kann ich darüber schreiben, noch kann ich über die Unwägbarkeiten eines verkorksten Lebens berichten. Noch schlägt mein Herz, allerdings neuerdings viel zu schnell, so dass berechtigte Annahme besteht, dass es etwas Schaden genommen hat, in den Stürmen des Lebens. Ich muss mit dem Rauchen aufhören, so lange ich noch kann! Unglaublich, was wir uns mit Alkohol und Nikotin über Jahrzehnte antun. Bei nüchterner Betrachtung macht das überhaupt keinen Sinn. Wir sind nicht geboren worden, nur um verzögerten Suizid mit Suchtmitteln zu verüben. Jeder Arzt würde da sofort zustimmen!

Was macht es dann so schwierig, auf diese Gewohnheiten zu verzichten? Was ist die treibende Kraft hinter der Sucht? Wenn ich das wüsste, säße ich nicht hier in einer Suchtklinik! Eskapismus, die Flucht aus der realen Welt, die einem so viel Leid angetan hat, ist sicherlich eines meiner Hauptmotive. Erst jetzt, mit über 50 Jahren verstehe ich, wie verhängnisvoll in der Kindheit erlittene Traumata im höheren Alter sein können. Lange Vergessenes kommt zum Vorschein, lange Verdrängtes dringt an die Oberfläche und mit der Unmöglichkeit, diese Prozesse zu stoppen, greift man zum chemischen Hilfsmittel, um das Trauma weg zu bekommen. Diese Prozedur ist selbstverständlich niemals von Erfolg gekrönt – kann sie gar nicht sein, denn das Trauma sitzt tiefer als die Sucht, ist Ursache und nicht Wirkung. Nicht die Sucht verursacht das Trauma, sondern das Trauma verursacht die Sucht. So wird ein Schuh daraus.

Also besteht die einzige Möglichkeit der Traumabewältigung darin, hinter die Kulissen zu schauen und das geht nur, wenn dauerhaft keine Suchtmittel in Spiel sind, sondern die nackte, oft unschöne Wahrheit auf dem psychologischen Behandlungstisch liegt. Das wiederum erfordert Vertrauen, sowohl in die Wirksamkeit der Therapie wie in die Therapeuten auch. Dieses Ur-Vertrauen in die Menschen ist traumatisierten Kindern jedoch genommen worden und ist im Erwachsenenalter nur schwerlich wieder herzustellen, da wir es mit hochemotionalen Prozessen zu tun haben, die tief in unseren Hirnwindungen ablaufen, größtenteils auch noch unbewusst dazu und es Jahrzehnte dauern kann, bis sich ein Kindheitstrauma in eine handfeste psychische Erkrankung manifestiert.

Und genau das ist bei mir passiert. Ich habe jahrzehntelang verdrängt und die Selbstreflektion mit dem Geschehenen verweigert. Immer übertüncht, immer den Normen entsprechend, oftmals darüber, versucht, die seelischen Verletzungen, die ich in früher Kindheit und Jugend erlitten habe, zu verbergen. Erst jetzt, mit dem Absturz hin bis zum Selbstmordversuch fange ich an, mich mit diesen Prozessen vertraut zu machen und die Dinge so zu akzeptieren, wie sie sind und nicht, wie sie sein sollen. Es ist ein schmerzhafter Prozess, den ich unter „Normalbedingungen“ wohl nie angefangen hätte. Aber jetzt geht es endlich mal in diesem Leben nur um mich, um meine Gesundheit und dieses Denken ist neu für mich, der es lange Jahre lang gewohnt war, über die Sorgen und Nöte anderer zu brüten. Das hat mich letztendlich krank gemacht und monatelang ins Krankenhaus und wahrscheinlich jahrelang in Therapie. Die Frage ist nur, wie kaputt bin ich schon und was lässt sich noch retten? Werde ich zum Pflegefall oder schaffe ich es noch, auf eigenen Beinen zu stehen? Kommt da in diesem Leben noch was – oder war es das schon? Und den Rest verbringe ich als Patient?

Wir werden sehen. Ich sehe die Lage hoffnungsvoll. Voraussetzung allerdings ist, dass ich a) nüchtern bleibe und b) aus den Schablonen und Denkmuster der anderen ausbreche. Ich muss mein Leben selbst gestalten, sonst gestalten andere es für mich. Lasse ich mich wieder darauf ein, in Kompromissen und Schubladen zu denken, werde unweigerlich noch kränker werden und am Ende mit der Krankheit sterben.

Ich kann, und tue, mich glücklich schätzen, dass ich überhaupt noch da bin und all dies erzählen kann. Im alten Denken ist das Sein-an-sich eine Last und das existieren nur eine Abfolge von schmerzhaften Prozessen. Im neuen Denken ist das Sein-an-sich ein Geschenk, die Bonusrunde nach dem durchgespielten Leben. Jeden Herzschlag, den ich verspüre nehme ich an als Geschenk. Ich hätte längst nicht mehr da sein sollen und habe erneut eine Chance bekommen.

Ich hoffe, ich langweilige Dich nicht mit diesen Gedanken, liebe Alte Seele. Doch hier in der Isolation habe ich endlich die Zeit und die Muse, etwas tiefer in die erstarrten Schemata des Denkens einzutauchen. Ich wurde von der Krankheit sprichwörtlich aus dem Leben gerissen und habe die Abwärtsspirale umgedreht. Denn alles, was wir tun, ist erst einmal nur ein Gedanke. Denken, Fühlen, Handeln. Die drei Grundsäulen unseres Seins und jeder Schritt bedingt den anderen. Alles hängt mit allem zusammen, über die Windungen unseres Hirns genauso wie durch die Tiefen unserer Seele.

Mein Abendgebet: Bitte Herr, lass mich die Dinge, die ich gut tun kann, tun. Und die Dinge, die ich nicht ändern kann, gelassen hinnehmen.

Montag, kurz vor dem Mittagsessen. Gruppentherapie, wieder hat es ein Mitpatient nicht geschafft und musste wegen eines Rückfalls die Therapie vorzeitig beenden. Obwohl hoch motiviert. Das zeigt einmal wieder, mit was für einer heimtückischen Krankheit wir hier es zu tun haben. Noch so viel Extrovertiertheit und nach außen kehren seiner Probleme hilft wenig, wenn man in der Introspektion, das heißt der Schau nach innen nicht stark genug ist, der Versuchung zu widerstehen. Eine Versuchung, wieder in alte Gewohnheiten zu fallen, wenn das Netz, welches man um und unter sich spannt dann im Ernstfall nicht trägt. Mich lässt das im Augenblick, wenn ich ganz ehrlich bin, relativ kalt. Ich bin zu sehr mit mir selbst beschäftigt, als dass ich auch noch die Sorgen anderer auf mich laden könnte. Ich glaube, das ist auch gut so, denn die Sinnhaftigkeit einer solchen Therapie macht sich ja letztendlich am eigenen Verhalten danach fest. Hier drin ist alles recht einfach. Klare Regeln, eine klare Tagesstruktur, der man sich beugen kann und muss. Aber draußen ist kein Therapeut 24/7 an deiner Seite. Draußen sind wir auf uns alleine gestellt gegenüber den An- und Überforderungen der Gesellschaft und nicht jeder ist denen auch gewachsen. Ich kann nur für mich selbst sprechen und da sehe ich mich auf gutem Wege zur vollständigen Abstinenz, immer mit dem Schlimmsten vor Augen, welches sich unweigerlich wiederholte, änderte ich nicht grundlegend Dinge in meinem Denken. Du hast etwas geschafft. Woran andere jetzt schon gescheitert sind. Wollen wir mal hoffen, das es dabei auch in Zukunft bleibt. Glaube an die Abwesenheit des Bösen und das Gute ist da. Es geht hier schließlich weniger darum, etwas zu tun, sondern etwas zu lassen. Freiwillig zu lassen, um sein Verhalten gegenüber der Gesellschaft und vor allem sich selbst zu ändern. All diese Institutionen sind dafür gebaut worden, um Leuten wie mir zu helfen. Da ist das Mindeste, was ich tun kann, mich an die Spielregeln dieser Institutionen zu halten. Schließlich verhindern sie einen weiteren Absturz, der für mich der letzte sein könnte. Immer wieder jeden Tag muss ich mir die Ernsthaftigkeit der Lage vor Augen halten! Ich habe keine Spielräume mehr, was die Sucht betrifft. Es gibt nur diesen einen gangbaren Weg, so unangenehm er auch manchmal sein mag und so widerwillig man sich seinem eigenen Versagen täglich neu stellen muss.

Dienstag. Angstkurven haben wir gezeichnet. Wir sind jetzt in der Behandlung endlich an den Ursachen der Sucht angekommen. Angst bedingt Sucht und Sucht bedingt Angst. Mit fortschreitender Abstinenz kommen die eigentlichen Ursachen derselben zum Vorschein, nämlich die Angststörung und die Bipolarität. Ich sehe ganz deutlich im Verlauf der Angstkurven (das Hirn ist nicht in der Lage, ein 100% Angstniveau länger als 20 Minuten zu halten) die Schwachpunkte, die ich habe. Ich habe das Suchtmittel benutzt, um damit die Angst zu bekämpfen. Und zwar just in dem Moment der Abspannung und nicht der Anspannung. Ich schalte im Moment der Anspannung in einen „Überlebensmodus“, der dafür gut ist, in einer Panik-Situation zu funktionieren, das heißt, im Ablauf eine notwendige Tätigkeit nach der anderen auszuführen (beispielsweise beim Zugfahren). Es ist wie die negative Seite des positiven „Flows“. Äußerste Konzentration auf das Wesentliche, zum Überleben Notwendige, unter Ausschaltung des rationalen Verständnisses der Folgen der Handlungen. Nun sind in meinem Fall diese Angst-Attacken wiederkehrend und haben sich von den ursprünglich sie auslösenden traumatischen Erlebnissen verselbständigt. Um diese Attacken zu unterdrücken, habe ich jahrelang zum dämpfenden Mittel Alkohol gegriffen. Ich habe mich also selbst „behandelt“, in dem ich die aus dem Unterbewussten kommenden, der Wirklichkeit nicht entsprechenden, Impulse niedergedämpft habe, um die nächste Attacke zu verhindern. Als „Nebenwirkung“ dieser „Selbstmedikation“ entstehen dann wiederum neue Angszustände, wenn das Suchtmittel ausbleibt. Und fertig ist die Teufelsspirale von Angst und Sucht, die es mit Hilfe der Therapie zu durchbrechen gilt.

Erst jetzt verstehe ich, wie krank ich eigentlich bin. Dass die Ursachen der Sucht in traumatischen Ereignissen liegen, dass diese aufgearbeitet werden müssen und nicht mit Suchtmitteln unterdrückt werden dürfen, da dies das Leben mit dem Trauma tatsächlich verschlimmert und neue traumatische Situationen hervorruft, die dann wiederum neues Suchtverhalten provozieren. Das ist des Pudels Kern, mit Goethes Worten. Was ich bräuchte, was aber sehr schwer oder gar nicht mehr herzustellen ist, ist das Ur-Vertrauen in das Sein und in andere Menschen. Mein Unterbewusstes geht immer vom Schlimmsten aus, völlig losgelöst vom eigentlichen Geschehen in der Welt. Es hat gewissermaßen ein Eigenleben entwickelt, welches durch die Sucht reguliert wurde. Und das über Jahre hinweg, so dass sich die Suchtmechanismen tief in mein limbisches System eingebrannt haben und automatisiert konsumiert wurde, um die regulatorischen Prozesse im Hirn in Gang zu halten. Bis es eben nicht mehr ging und die Sucht zum determinierenden (bestimmenden) Faktor wurde. Die Angst vor der Nüchternheit hat mein Konsumverhalten geprägt und nicht der anfängliche Wunsch nach Rausch.

Nüchtern betrachtet habe ich die Sucht in meinen Jugendjahren entwickelt. Untersuchungen zeigen, dass Jugendliche schon in kurzer Zeit eine Sucht entwickeln können, für die der Erwachsene fünfzehn Jahre und länger benötigt. So waren meine prägenden Jahre im Alter von 14 bis 16, in der die Sucht schon entstanden ist. Das sind grob gerechnet vierzig Jahre, die ich diese Krankheit mit mir herumschleppe, allerdings mit langen Pausen (die längste immerhin 15 Jahre). Dies zu verstehen und zu akzeptieren ist der erste Schritt in der Ursachenbekämpfung der Sucht. Erst war die Angst, dann kam die Sucht und dann kam die Angst doppelt zurück – und es bildeten sich weitere psychische Störungen heraus. Ich möchte klar sagen, dass die anderen Störungen sich gerade in trockenen Zeiten vermehrt gezeigt haben! Also ist nicht die Sucht ursächlich für die Erkrankung, sondern die Erkrankung hat die Sucht weiter befeuert.

Was heißt das nun für die Zukunft? Nach Abschluss der Entwöhnungsbehandlung hier gilt es, die ursächlichen Dinge weiter zu behandeln. Dies muss ich der Suchtnachsorge und in einer anschließenden Psychotherapie geschehen. Nur so lässt sich ein Wiederaufflackern der Sucht nachhaltig vermeiden. Die Sucht (egal mit welchem Suchtmittel!) hat sich manifestiert und ist im Suchtgedächtnis gespeichert, genau wie die Traumata auch und sie bedingen sich gegenseitig. Über bewusste Techniken nun versuchen wir, dieses eingespielte Tandem aufzulösen und so genannte „Trigger-Ereignisse“ zu bearbeiten und zu verhindern.

Nach außen sieht man diese Prozesse nicht. Nach außen sieht man nur die Sucht und man wird so auch abgestempelt. Nach den Ursachen zu fragen, bleibt Ärzten und Therapeuten und vielleicht den engsten Familienmitgliedern vorbehalten. Weil diese Menschen einen Wert in diesem Dasein erkennen und sich freiwillig für das Wohl des anderen verpflichtet haben. Das spendet Trost. Ein Faktum, welches unsere Gesellschaft zur humanen Gesellschaft macht, obwohl im Alltag oft Konkurrenz und Wettbewerb vorherrschende Themen sind.

„Jeder stirbt für sich allein“, ist ein ziemlich schlechtes Motto, wenn wir als Menschen zusammen leben wollen. Wir sind soziale Wesen. Und dazu gehört auch die Akzeptanz der Schwäche des anderen. Wir alle haben Idealvorstellungen vom Leben und werden dann bitter enttäuscht, wenn sich diese Vorstellungen nicht verwirklichen lassen. Oft leidet der Selbstwert, oft kommen Depressionen und andere psychische Leiden dazu – in unserer spätkapitalistischen Leistungsgesellschaft ohnehin. Mehr Besinnung auf das Menschsein täte Not.

Auch hierzu ein Gedicht von mir. Nur ein Einzeiler: „Maschinen, nein, das sind wir nicht, wir tragen noch des Herzens Licht“.

Erst jetzt verstehe ich, wie krank ich eigentlich bin. Diesen Satz muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Krank im Bezug auf was? Mich selbst? Die Gesellschaft? Andere? Der Selbstzerstörungsmechanismus kommt aus dem Gefühl der Minderwertigkeit. Wozu soll ich noch sein, wenn ich nicht das sein kann, was ich sein will? Ja, nicht einmal weiß, was ich sein will? Verkleidet in dieses vermeintliche Paradox schleicht sich der Gedanke der Nicht-Existenz. Was denkt jemand, der nicht existiert? Nichts. In einer depressiven Phase obsiegt das Nichts über das Alles und das Sein ist nur noch lästige Pflicht. Das Sein ist Qual und Schmerz und die Frage nach der Sinnhaftigkeit eines leidenden Daseins ist permanent. Im Übrigen ist die Weltliteratur voll mit Beispielen dieses Kampfes um Sinnhaftigkeit. „Sein oder nicht sein“, ist nicht nur die Frage, sondern „Warum dieses sinnlose Sein“?

Diese Fragestellung berührt mit die tiefsten philosophischen Gedankengänge der Menschen insgesamt. Die Sinnsuche. Manche suchen den Sinn in der Ausbildung ihres Egos. Andere suchen den Sinn, indem sie wieder anderen helfen. Die dritten suchen Sinn in Kunst und Literatur und wieder andere in Gott und Religion.

Meine Sucht und mein Niedergang ist auch Folge einer gescheiterten Sinnsuche. Mein kluger Schüler würde jetzt fragen: „Markus, was ist der Sinn des Lebens?“ Und ich müsste ihm antworten: „Ich weiß es nicht“. Sicherlich ist Sinn des Lebens nicht Leiden, obwohl (und die Bücher und die Bibel sind voll von diesen Geschichten) das Leiden auch ein Augenöffner für die Sinnhaftigkeit des Lebens sein kann, wenn man tief genug ins Leiden einsteigt und das Glück hat, es zu überleben.

Mittagessen. Schweinegulasch mit Kartoffel-Stampf. Lecker. Ich esse Fleisch hier in der Therapie, nehme aber nicht alle Mahlzeiten wahr. Draußen werde ich wieder freiwillig auf das Fleisch weitestgehend verzichten, aus ethischen wie gesundheitlichen Gründen. Aber hier scheint mir die Vollkost die richtige Wahl zu sein, um wieder zu Kräften zu kommen. Und das Essen ist sehr gut hier. Ich kann mich diesbezüglich nicht beschweren. An Hunger leiden muss ich gottseidank nicht, obwohl ich draußen sehr unregelmäßig esse, auch etwas, was ich von hier mitnehmen kann. „Ohne Mampf kein Kampf!“, wie ein Mitpatient es salopp ausdrückte.

Ich will noch ein wenig beim Leiden verbleiben. Denn Leidensgeschichten sind auch Geschichten, die man erzählen kann und vielleicht auch sollte. Aus Leid entsteht auch Erfahrung, die man teilen kann und vielleicht auch sollte.

Wie es zum Beispiel ist, in permanenter Angst zu leben, wie wir ja herausgefunden haben, der bestimmende Faktor in meinem Leben. In Angst vor täglichen Dingen, in Angst vor dem Einkaufen, dem Briefkasten, dem Arbeiten. In Angst vor den eigenen Alpträumen, in Angst vor Begegnungen, in Angst vor Beziehung und Bindung, in Angst vor allem und jenem. Leben in völlig unbegründeter Angst und ständiger Panik vor dem Kommenden. Das ist, was ich der Psychologie bieten kann. Eine Innenansicht eines Angstpatienten. Eine Introspektion.

Markus, vor was hast Du eigentlich Angst“, ist die Preisfrage. Ich weiß es nicht. Die Angst hat sich verselbständigt und von jedem äußerlichen Ereignis gelöst. Sie liegt wie ein bleiernes Kostüm auf meiner Seele. Ich habe Angst vor allem. Eine unbewusste Angst, die mein ganzes Leben zu bestimmen bedroht, die quält und lähmt – und die ich erfolglos versucht habe, weg zu betäuben. Lebensaufgabe muss es daher jetzt sein, sich dieser Angst zu stellen – um festzustellen, dass die Angst in den meisten Fällen völlig unbegründet war und ist. Angst ist ein notwendiger, archaischer Schutzreflex, der in der Evolution sicherlich seine Berechtigung hatte (die steinzeitliche Angst vor wilden Tieren zum Beispiel) aber in unserer modernen Gesellschaft keinen Platz mehr hat. Ängste lähmen und sind kontraproduktiv. Niemand sieht mir von außen die Angst an – aber sie ist mein ständiger Begleiter.

Einkaufen. Diesmal leider ohne Glücksmoment. Ich spüre die Krankheit, wie sie nach mir greift. „wie krank bist Du wirklich, Markus“ stelle ich mir die Frage. Ziemlich krank, weil die Angstattacken im Alltagsleben doch sehr hinderlich sind. Sie kommen aus dem Nichts und überfallen mich wie dunkle unsichtbare Gegner in der Nacht. Ständig muss ich auf der Hut sein, ständig aufpassen, dass sie nicht rücklings zuschlagen. Ein deja vu des tatsächlich vorgefallenen Überfalls? Ein Flashback? Nein, heute gottseidank nicht. Aber das Gefühl des Unguten begleitet mich wie ein Schatten. Ich werde es nicht los. Wie soll ich nur damit leben lernen? Ich fühle mich wie ein kleines Kind, welches Laufübungen macht und immer und immer wieder hinfällt. Fallen, aufstehen, weiter laufen. Und das im unendlichen Zyklus. Aber wie das Kind durch das Fallen letztendlich laufen lernt, so lerne ich wieder das Alltagsleben. Schritt für Schritt bestätigt sich das Selbstbewusstsein – und jeder weitere Tag ohne Fallen ist ein Geschenk. Auch ein Therapieerfolg.

Wie krank und kaputt bist du wirklich, Markus? Kann man dich heilen? Gibt es noch Hoffnung?Was kannst Du mit dieser Krankheit überhaupt noch machen? Diese Frage beschäftigt mich schon den ganzen Tag heute. Hoffnung gibt es sicherlich. Heilung bis zu einem bestimmten Maße auch, schließlich bemühe ich mich darum, nutze die Möglichkeiten unseres Gesundheitssystems, mache Therapien und höre auf die Beratungsstellen. Ich lerne jeden Tag dazu, und das ist für jemanden in meinem Alter auch nicht selbstverständlich. Zumal ich den Weg letztendlich alleine gehen muss. Und letztendlich passiert die Heilung in mir und nicht um mich herum.

Ohne Gesundheit ist alles nichts. Ein zweiter Satz, der in meinem Kopf herumschwirrt. Und mit Gesundheit meine ich nicht nur die Abwesenheit von Krankheiten. Mit Gesundheit meine ich auch die Fähigkeit, das Gute im Leben zuzulassen, die gebotene Hilfe auch anzunehmen. Die wildesten Pläne für meine Zukunft kann ich getrost in den Mülleimer der vertanen Chancen stecken, denn alles Kommende beruht auf die Annahme, dass ich gesund bin und bleibe. Und davon bin ich noch ein ganzes Stück entfernt.

Die Abwesenheit von Gesundheit stellt mich aber vor andere Fragen. Was benötige ich für ein glückliches Leben? Nicht wirklich viel. Sicherheit, ein wichtiges Thema. Geborgenheit. Fürsorge. Eine Lebensaufgabe. Eine gesund machende Umgebung, keinen krank machenden Job. „Das große Glück der Menschheit war schon immer das kleine Glück der Menschen“, hat mal ein sehr weiser Mensch gesagt. Und es stimmt auch. Aufs Wesentliche reduziert braucht der Mensch nur sehr wenig von den, was unsere Gesellschaft produziert. Vieles ist „nice to have“ aber nicht zwingend notwendig. Wir alle sollten uns den Spiegel vorhalten und uns fragen: „brauche ich das wirklich?“ Die Antwort wird in den meisten Fällen lauten: Nein. Und dennoch häufen wir weiter unnütze Dinge an, nennen das „Lebensstandard“, obgleich die Lebensqualität zugunsten der Lebensquantität verloren geht.

Bitte verstehe mich nicht falsch, Alte Seele. Ich plädiere nicht für eine von oben gleich verteilte Gesellschaft, ich bin Befürworter von Angebot und Nachfrage. Aber ich bin auch für eine Einsicht dessen, dass nicht all das, was wir in unserer Gesellschaft als erstrebenswert halten, dies auch ist. Bei mir zumindest ist notgedrungen ein sprichwörtliches Gesundschrumpfen, eine Besinnung auf den Kern des Seins notwendig.

Es fällt mir schwer, meine Gedanken, die aus der Tiefe der Emotion kommen durch den Filter meines Bewusstseins aufs Papier zu bekommen. Dennoch versuche ich, in die Stille hinein zu hören. Auch hier hilft ein Gedicht von mir an Dich: „Hörst Du die Stille? Denn in der Stille bin ich da. Weil ich Dich Liebe“. Im Nichts ist alles und alles ist Nichts. Oder wie die Alten Griechen sagen würden: Oben wie unten, unten wie oben. Oder mit Leibniz‘ Worten „um das Alles aus dem Nichts hervorzubringen genügt eine eins.“ Ich habe heute meinen philosophischen Tag, wie Du merkst.

So wie für einen Theater-Schauspieler die Bühne die „Bretter für die Welt“ bedeuten, bedeuten Bücher und das Schreiben die Welt für mich. Der leer blinkende Kursor ist die Bühne, das leere Blatt. Der Text ist die Rolle, das Leben das Schauspiel. Ob es dann eine komische Tragödie oder eine tragische Komödie wird, wird die Zeit zeigen. Die Zeit schreibt die Geschichte, Gott oder die höhere Kraft führt Regie und der Leser ist das Publikum. Eine Rolle wird gespielt, im stillen Kämmerlein und die Kritiker sitzen vor den Bildschirmen, anonym und meistens ganz still und leise. Der Smiley ist der Beifall und der Reply ist die Zugabe in diesem Spiel. Lange schon habe ich die Regie abgegeben. Es ist nicht gut, gleichzeitig Protagonist und Regisseur in seinem Drama zu sein.

Denn ein Drama wird hier gegeben, mit Lust, Liebe und Tod und Verzeihung und Auferstehung. Es wird an den Grundfesten der Existenz gehörig gerüttelt. Es wird gelitten und geliebt, betrogen und vergeben. Das Leben ist ein immer währendes Stück, bei jeder Aufführung einzigartig und nur selten vor großem Publikum gegeben. Das Leben ist ein Spiel. Ha, welch Erkenntnis (den bitteren Sarkasmus hier verstehst Du wohl).

Vielleicht sollte ich mich mal an einem Theater-Stück versuchen, mit viel innerem und äußerem Monolog. Wäre spannend, so etwas zu schreiben oder zu spielen.

Ich muss zum Abendessen. Und meine Tabletten nehmen. Mahlzeit!

Mittwoch. Gute Nachrichten, ich bin schon ganz aufgeregt. Nach der Therapie hier geht es für mich nahtlos weiter in einer Adaptionsgruppe, das heißt drei bis vier Monate lang weiter stationäre Klinik, allerdings mit Anbindung an den Arbeitsmarkt. Danach bin ich also im Frühjahr 2023 insgesamt neun bis zehn Monate lang in diversen Kliniken gewesen. Das zeigt, wie akut und wie schwer meine Krankheits-Situation ist. Ich bin aber sehr gespannt auf die neue Erfahrung. Gottseidank befindet sich die Klinik in der Nähe meines Wohnortes, so dass ich dringende Dinge erledigen kann. Das Gute an der Adaption ist die ärztliche Begleitung in der Zeit. Vom Gefühl her ist es das genau richtige für mich, denn immerhin bin ich zwei Jahre lang nicht auf dem Arbeitsmarkt gewesen und fühle und spüre, dass gerade eine sinnvolle Betätigung mir zur Zeit auch fehlt.

Hauptsache ist, dass es weiter geht – und ich nicht die Gefahr laufe, in mein altes, krank machendes Umfeld zurückfalle und dass es praktisch ohne weitere Wartezeiten geklappt hat. Das freut mich.

Donnerstag. Kein guter Tag heute. Ich spüre die Krankheiten deutlich. Mir ist schwindelig und ich mache mir Sorgen über Sorgen. Warum bist Du so krank geworden? Warum bist Du hier in dieser Klinik? Wo in deinem Leben bist Du falsch abgebogen? Marterfragen. Ich bin in einer bipolaren Mischphase, aufsteigend. Das heißt, ich will sowohl sofort alles machen, andererseits zieht die Depression in Grübeleien – und der innere Druck steigt. Nach außen hin ist nichts sichtbar, doch meine Seele kocht, und selbst kleinste Dinge wie ein Wäschewaschen kosten unendlich Überwindung.

Natürlich habe ich auf diese Fragen keine Antworten, ansonsten wäre ich nicht hier. Aber Tage wie dieser, wo mich ein Fußballspiel fasst aus der Fassung bringt, zeigen, wie fragil das gute Denken im Alltag noch ist. Ich sorge mich um Dinge, die weit in der Zukunft und weitestgehend außerhalb meiner Macht sind. Völlig unnötigerweise.

Ich habe beschlossen, das Rauchen aufzugeben. Aus gesundheitlichen wie finanziellen Gründen. Dabei helfen mir Pfefferminzbonbons, die mir allerdings die Zähne ruinieren. Ein toller Tausch. Nicht. Ich fühle mich wie ein Wrack, vom einstigen Stolz der Erscheinung, vom (in der Hochphase) alles Könnenden zum einsamen Grübler. Doch ich weiß mittlerweile auch, dass solche Tage eben zur Krankheit gehören, und dass ich das schlechte Denken auch unterbrechen kann. Unter anderem, indem ich diese Zeilen schreibe. Schreiben ist Therapie für mich. Sind die Denkprozesse einmal auf Papier oder in den PC getippt und geteilt, sind sie in der Welt und raus aus dem Kopf.

Ja, das Rauchen, mein ständiger Begleiter seit der Jugend, seit ich ungefähr zwölf Jahre alt war. Dann fünfzehn Jahre lang ohne (wie zum Beweis auch hier, dass es ohne besser geht) und seit ungefähr drei Jahren wieder eine Schachtel am Tag. Ich will weg vom Nikotin und Koffein. Denn das Gegenteil von Abhängigkeit ist Freiheit und mich nervt es zunehmend an dem blöden Glimmstängel zu hängen. Ich werde zunehmen, wenn ich aufhöre. Das ist der Preis der Freiheit. Außer ich reduziere mein Essen, denn das Nikotin schraubt den Energieverbrauch des Körpers hoch. Auch so genannte e-Zigaretten sind für mich keine Option, da hat man zwar Dampf statt Qualm und weniger Schadstoffe, doch der Suchtstoff, das Nikotin ist ja derselbe.

Auch hier verstehe ich verstandsmäßig die Mechanismen der Sucht. Ich weiß, was ich meinem Körper mit dem Rauchen antue. Und doch ist die Gewohnheit stärker als mein Wille bislang. Das muss sich ändern, Markus muss clean werden, um in den Stürmen des Lebens wieder einigermaßen stolz segeln zu können. Schließlich will ich nicht auch noch Krebs bekommen. Ich bin krank genug. Sagt’s und geht eine rauchen. Sic!

Ein Moment zum Einfangen. Beim Rauchen schupperte ich in die kühle Herbst-Brise hinein und roch, frisch geduscht, den Geruch des modernden Laubs. Ein Gefühl der Freiheit umgab mich, frei von den Lasten der Vergangenheit. Was war, war. Was kommt, kommt. Und was ist, ist. Für einen kurzen Augenblick wurde mir deutlich, dass ja nach diesem Neubeginn die ganze Welt mir offen steht, dass die Einschränkungen, die ich habe ja größtenteils mir selbst auferlegte sind. Ich fühlte mich einen kurzen Moment wie ein Zwölfjähriger im Schullandheim, der im Geheimen in der Ecke genüßlich aber hastig an der Zigarette zieht. Ein Gefühl, welches ich seit dreißig Jahren nicht mehr hatte. Ein Gefühl von Abenteuer und Gefangensein gleichzeitig. Seltsam, in diesem Alter noch (oder wieder?) solche Gefühle zu entwickeln. Ein Moment. Unser Leben ist eine Anreihung von Momenten. Und nur wenige sind es wert, eingefangen zu werden.

Ich esse schlecht, muss mich hier im Klinik-Takt zum essen zwingen. Mein Bauch meldet „Hunger“ und mein Kopf dagegen „Hungerstreik“. Ich habe keine Ahnung, woher das kommt. Also stelle ich mich in die Schlange und esse nur den halben Teller. Aber Freude macht das zurzeit nicht. Am liebsten würde ich das Essen ganz einstellen, fasten, und stundenlang vor mich hin meditieren. Bücher lesen, Texte schreiben. Nicht ein Gedicht habe ich in der ganzen Zeit, die ich hier bin hervorgebracht. So sehr war und bin ich mit mir selbst und der Annahme und Überwindung der Krankheit beschäftigt. Das ist schade, denn in den Gedichten werden die Emotionen des limbischen Systems komprimiert und konserviert. Wie ein Maler ein Bild vor seinem inneren Auge sieht, so höre(!) ich ein Gedicht. Es ist wichtiger wie es sich anhört wenn es aus den Tiefen des Universums durch mein Reptilienhirn in Emotion verpackt, in Sprache gehüllt, vom Verstand getippt oder geschrieben wird, bis es dann endlich das Licht der Welt und die Tiefen des Internets erblickt und dann irgendwann den umgekehrten Weg nimmt und im Auge des Betrachters sich durch dessen Verstand, in dessen limbisches System vorkämpft und dort Emotionen auslöst. Dann hat die emotionale Kommunikation über den Text funktioniert.

Das gesprochene Wort ist schneller am Ziel, nämlich bei den Emotionen, als das geschriebene. Deshalb finde ich die Podcasts, die ich mache auch so wichtig. Mit der Stimme verbindet sich ein Charakter, der Zuhörer macht sich ein konstruiertes Bild des Senders im Empfänger bereit, welches weg vom abstrakten, gesehenen Text die Nuancen des Sprechens beinhaltet. Beim Video geht dieser Teil, das Persönliche Einbilden verloren. Der Hörende schafft sich ein Bild vom Sprechenden. Der sehende sieht einfach nur. Deshalb ist bei jedem Film oder Video der Ton wichtiger als das Bild. Und die Soundtracks erinnern uns an eine Lovestory mehr als jedes Movieposter. Text hingegen muss auch noch durch den visuellen Lernapparat des Lesens hindurch, wodurch der Autor sich weiter vom Leser entfernt und noch weniger Bildsubstanz für das innere Auge des Betrachters liefert. Du bist ja ganz anders, als ich mir vorgestellt habe, habe ich auch schon von Leserinnen und Lesern oder Hörerinnen und Hörern gehört.

Genau das gefällt mir aber am Text: Die Leute müssen sich ein eigenes Bild vom Schreiber machen. Und das tut jeder auf seine individuelle Art und Weise. So kann sich der Leser seelisch für einen kurzen Moment mit dem Schreibenden verbinden, obwohl er oder sie ihn oder sie gar nicht persönlich kennt. Ein Gedicht kommt aus der Emotion (bei mir Leid oder Liebe meistens) und im besten Fall erzeugt es im Leser Emotionen wie Mitleid oder Gegenliebe.

Ein spannendes Experiment. Stelle Dir vor Du wärst wieder zwölfjährig und hättest die ganze Welt und Dein ganzes Leben vor Dir. Würdest Du alles machen wie bisher? Würdest Du mit dem Wissen eines 53-jährigen anders durchs Leben gehen? Ich denke schon. Ich würde vor allem auf die Entwicklung der Sucht besser achten, denn bewusst oder unbewusst hat sie mein halbes (immerhin im Vergleich zu anderen nicht ganzes) Leben dominiert. Ich bin damit aufgewachsen, durch Schule und Studium gegangen und habe ein Kind nicht nur in die Welt gesetzt, sondern auch großgezogen. Alles unter dem Diktum der Abhängigkeit, die allenfalls für Jahre ausgesetzt aber niemals komplett geheilt wurde. Weil meine Seele beschädigt war und ist. Ich bewundere Menschen, die frohen Mutes auch in schwierigen Zeiten durchs Leben gehen, seien die Umstände noch so widrig. Ich habe diese Gabe nicht, sondern neige zum Schwermut und zum überdramatisieren von Dingen. Als Kind wollte ich Wissenschaftler werden, der eine Pflanze entwickelt, die so schnell wächst, dass niemand auf der Welt mehr hungern muss. Das bin ich leider nicht geworden, sondern nur ein kleines Rädchen im System der Politik. Das Schöne am alten Job (nicht alles war schlecht), war die Freiheit zu denken und sein Denken als Input in das System zu bringen. Ich habe die Arbeit ja nicht als „Job“ gemacht, sondern dem höheren Zweck der Freiheit des Einzelnen dienend. Und ich habe diese Arbeit verdammt ernst genommen, wie der immer noch andauernde Trennungsschmerz ganz deutlich zeigt. Man wurde zumindest gehört, wenn oft aber nicht für voll genommen, obwohl sich meine Analysen und Prognosen oftmals bewahrheitet haben.

Nun läuft dieses gehört werden über meine Social Media Kanäle und diese Texte ab. Immerhin bin ich in der Lage, Texte zu produzieren und nicht nur zu konsumieren. Da klafft ein gewaltiger Unterschied zum Otto Normalverbraucher, der sich ununterbrochen mit Reizen des Systems ausgeliefert sieht, kaum mehr fähig, all die Eindrücke und Handlungsempfehlungen auch zu verarbeiten beziehungsweise zu befolgen. Auch hier bin ich der Meinung, weniger ist mehr. Qualitativ gute Informationen zu bekommen ist auch nicht ganz einfach in Zeiten des Netzrauschens. Man kommt mit dem Filtern gar nicht hinterher, so dass die Gefahr, sich Falschinformationen unter jubeln zu lassen, steigt.

Dies gilt nicht nur für Verbraucher von Informationen sondern auch für deren Produzenten. Am Beispiel des Ukraine-Krieges sehen wir, wie die Wahrheit verzerrt wird, von beiden Seiten gleichermaßen. Ein Krieg heutzutage wird in den Echo Chambers des Netzes genauso ausgefochten, wie mit Kanonen oder Raketen. Das nennt sich dann „Information Warfare“ und ich bin davon betroffen, wie alle anderen auch. Auch deshalb muss ich den Input an Informationen in mein System besonders sorgfältig prüfen. Eine viertel Stunde Tagesschau am Abend reicht da nicht.

Auch heute bin ich mit dem Bewusstsein aufgewacht, dass ich krank bin, in der Klinik, die mittlerweile mein zweites Zuhause geworden ist. Auch heute bin ich mir des beschränkten Lebensradius bewusst, den ich gerade habe, dass ich nicht einfach alles tun kann, was ich gerne täte. Dass die Krankheit eine echte Behinderung in meinem Leben darstellt und dass das auch in Zukunft so bleiben wird. Auch heute wieder heißt es, Therapie-Arbeit zu leisten, in der Gruppe wie einzeln sich immer und immer und immer wieder vor Augen führen, was man eigentlich hat und wie es zu behandeln ist. Auch heute wieder muss ich Medikamente nehmen, die mich von der Depression ein Stück weit wegbringen. Auch heute wieder muss ich achtsam sein in dem, was ich denke und tue, Heute ist ein Tag, ein neuer Tag, ein weiterer abstinenter Tag, ein Tag in Richtung gutes Leben.

Noch immer habe ich das Hunger-Essen-Problem. Ich habe zwar Hunger aber überhaupt keinen Appetit. Mein Geschmackssinn ist immer noch Corona-getrübt und das Essen fühlt sich oftmals an, als würde ich auf einem Stück Pappe kauen. Schade eigentlich, denn das Essen hier ist, wie schon berichtet, durchaus sehr gut. Heute ist Freitag und es gibt Fisch, wie jeden Freitag. Und am Samstag gibt es immer Suppe und am Sonntag immer Braten. Die leeren Kalorien der Marmeladebrötchen am Morgen lasse ich weg, dafür ist das Abendbuffet umso reichhaltiger. Ich habe weder zu- noch abgenommen in der Zeit hier, so dass die Ernährung schon passt. Schließlich sind die Ernährungspläne ja von professionellen Ernährungsberatern gemacht – und die Küche arbeitet toll. Auch das ist, wenn man so will, ein positives Zeichen in dieser Therapie.

Ich möchte noch etwas bei dem Gefühl bleiben, in dem Bewusstsein zu erwachen, dass man krank ist. Ich jammere hier auf hohem Niveau. Ja, ich habe eine schwere Krankheit, die mich lange Zeit an Kliniken bindet. Ja, diese Krankheit ist gefährlich und führt im Endstadium in den wenig schönen Tod. Diese Krankheit ist ernst und lebensbedrohend, rein körperlich wie vor allem seelisch. Meine Seele ist krank, mehr als mein Körper, und ich spüre das jeden Tag. Man kann die Krankheit stoppen, aber die Schäden an Körper, Geist und Seele sind nur teilweise reversibel, so dass Folge-Erkrankungen eher die Regel als die Ausnahme sind. Ich denke hier in erster Linie an das Herz aufgrund des immer noch relativ hohen Blutdrucks (trotz Medikation) und an die Lunge wegen des Rauchens und der COVID-19 Langzeitfolgen.

Es wird eine Heimfahrt werden, allerdings nicht in mein altes Zuhause, sondern in die nächste Einrichtung zum Training wieder arbeits-fit zu werden. Im Moment weiß ich nicht, ob ich meine alte Wohnung überhaupt so schnell wiedersehen werde. Spannende Zeiten.

Mitagessen.

Samstag Morgen. Juhuu, ein neuer Tag. Wieder Wochenende, gähnende Langeweile. Am Wochenende finden keine Therapien statt, so dass man sich die Zeit irgendwie füllen muss. Auch das Essen ist nicht so gut, am Samstag gibt es immer Eintopf. Ich habe Nachrichten im Internet gelesen, Energiekrise in Europa. Hausgemacht mit einer falschen Diktatoren-Appeasement-Politik der letzten Jahrzehnte. Aber mich tangiert das nur peripher, da ich ja in den geschlossenen Institutionen dieses Landes verweile. Anders als Millionen von Menschen, die echte Angst um ihre Heizung in diesem Kriegswinter haben. Neun Monate zieht sich der Konflikt nun schon hin – und ein Ende ist nicht absehbar. Die Politik reagiert zunehmend hektisch und weiß sich nur noch mit Alarm-Statements zu helfen. Das beruhigt die Bürger in keinster Weise, sondern trägt zur allgemeinen Verunsicherung mehr bei als es hilft. Das Vertrauen in die Standhaftigkeit unserer Demokratie ist auf ein Tief gesunken, doch echte Alternativen zum gegenwärtigen System sind auch nicht in Sicht.

Wenn es so weiter geht, wird Europa diesen Winter von einer Massen-Flucht aus der Ukraine betroffen sein, denn dort harren die Menschen im Winterwetter ohne Strom, Gas oder Heizung aus. Russland bombardiert gezielt die Energie-Infrastruktur des Landes, um so den Kampfeswillen der Ukrainer zu zerstören und eine Massenflucht auszulösen. Ich verstehe das alles nicht. Jeden Tag sterben Menschen auf beiden Seiten in einem völlig nutzlosen Krieg. Ich verstehe auch nicht, was die objektiven Ziele Russlands sind – die völlige Zerstörung der Infrastruktur, um so eine Massenflucht aus schlichtem Hunger zu erzeugen? Betroffen davon wären in erster Linie Polen und Deutschland. Schon jetzt haben wir eine Million Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen. Mit der jetzigen Strategie Russlands werden es sicherlich noch ein Vielfaches mehr.

Im Vergleich zu diesen Menschen geht es mir relativ gut. Ich kann aber mit ihnen mitfühlen. Und dass der Konflikt uns alle betreffen wird, ist schon lange klar. Hier werden die Landkarten Europas neu gezeichnet. Auch wenn Russland keine schnellen Erfolge auf dem Schlachtfeld erzielen kann – stetig Wasser höhlt den Stein. Und ein Ende der Angriffe scheint nicht in Sicht. Es findet ein langwieriger Zermürbungskrieg statt, in dem die eine Seite die Luftangriffe nicht vollends abwehren kann (das Land ist riesig) und die andere Seite unfähig oder unwillig ist, kriegsentscheidende Maßnahmen zu ergreifen. So zieht sich der Konflikt über Monate und Jahre hin und die internationale Öffentlichkeit sieht sich an den Bildern von Zerstörung und Misshandlungen satt. Die Verwüstungen des Krieges sind zum Alltagsgeschäft der Nachrichtensender geworden. Es scheint fast, als ob man die ukrainische Zivilbevölkerung dem grausamen Aggressor opferte, um eine Eskalation des Krieges zu verhindern zu wollen. Dabei ist der Krieg schon lange eskaliert, doch wird er im 21. Jahrhundert eben anders geführt als früher. Dronen und Raketen auf zivile Einrichtungen anstatt große Feldheere, die aufeinander auf dem Schlachtfeld treffen.

Ich bin in diesem Konflikt vollkommen auf der Seite der Ukrainer. Was sie dort leisten, um den Aggressor zurückzuschlagen, ist bemerkenswert.

Selbst ich bin noch vom letzten großen Krieg in Europa beeinflusst. Alle meine Großeltern waren Opfer des Krieges. Mutterseits erlitten wir Annexionen von Heimat in Karelien (heute Russland) und in Schlesien (heute Polen). Auch in meiner Familie wurde noch viel über den Krieg erzählt, schließlich war meine Oma Flüchtling aus Schlesien und mein Großvater amerikanischer GI. In zweiter Generation sind wir Nachkriegskinder. So wirken Krieg und Vertreibung über Generationen hinweg in Gesellschaften hinein – und ich sehe nicht, wie das im Fall Russland gegen Ukraine anders sein soll. Selbst ein unwahrscheinliches Ende des Krieges wird Europa für Jahrzehnte wenn nicht gar Jahrhunderte prägen.

Denn – es ist schließlich ein Stellvertreterkrieg der da geführt wird, und die Akteure sind die selben wie so oft in der Geschichte. Die Bruchlinien der Geschichte liegen tausend Jahre zurück mit dem Aufstiegs der Kiewer Rus gegen das damalige Polen-Litauen. Auch heute noch lassen sich kulturelle Differenzen zwischen Ost und West ausmachen. Uralte Konflikte werden wieder hochgespült, angefeuert von einem radikalen Panslawismus – von der Idee, dass ein Volk über dem anderen steht, in der Angst, die Kontrolle über den Vielvölkerstaat, der die Russische Föderation ja ist, zu verlieren, wird ein falsches Nationalgefühl erzeugt und propagiert. Umso mehr wird auf der anderen Seite ein genauso verheerendes Nationalgefühl erzeugt, welches Hass und Gewalt als Lösung propagiert. Dabei ist eines klar: Die Ukraine kann nur im Bündnis mit dem Westen überleben. Es kommt auf den Westen – also uns an, wie nah an uns wir den russischen Aggressor kommen lassen. Es ist eine Illusion anzunehmen, dass Russland seinen Beutezug nicht noch weiter ausbreitet, wenn die Ukraine erstmal zerstört und teilweise zumindest an Russland annektiert wird.

Diejenigen, die diesen Krieg betreiben, denken im Großen. Für sie ist der Krieg eine Frage der Macht, ja da wird von einer multipolaren Weltordnung unter russischer Führung geträumt, von einer Wiederherstellung des „glorreichen“ (was es ja nie war, man lese Dostojewski und Tolstoi) Zarenreichs, mit einer neuen Aristokratie des Geldes und einem Sonnenkönig an der Spitze. Nichts könnte unwahrer sein als das. In vielen Teilen ist Russland heute immer noch ein Zweite-Welt-Land, welches in Wohlstand und Wirtschaftskraft kaum mit den Europäern oder gar mit den Amerikanern mithalten kann. So benutzt man rohe Gewalt, um seine strategischen Ziele durchzusetzen; mit den verabscheuten Mitteln des 20. Jahrhunderts versucht man, eine sich genehme Weltordnung herzubomben. Dass dabei tausende Menschen sterben, ist den Führern im Kreml herzlich egal, egal auch ob die Verluste bei den eigenen Truppen auftreten.

Ich sollte nicht zu viele von diesen Nachrichten lesen. Sie machen in mir ein schlechtes Gefühl und ändern an der Sache kann ich eh nichts. Dazu haben wir unsere gewählten Vertreter, in deren Haut ich gerade jetzt nicht stecken wollte. Hut ab vor den Menschen, die aus einem kleinen Wahlkreis aufkommend jetzt plötzlich Entscheidungen, nicht nur von Milliarden von Euro, sondern auch noch von Krieg und Frieden in der Welt treffen müssen.

Selten war die Welt so nahe dran am Dritten Weltkrieg wie heute. Selten war die Gefahr eines „nuklearen Unfalls“ so prävalent. Selten habe ich so viel Hilfslosigkeit in Staatsorganen erlebt. Und selten so viel Willen, die Sache, irgendwie, noch zum Guten zu wenden.

Nicht nur ich brauche eine Therapie, nicht nur ich bin krank. Es scheint die ganze Welt ein Virus der Dummheit und Machtversessenheit befallen zu haben. Nur leider gibt es für diese Art von Erkrankung keine Kliniken und keine Besserungsanstalten, mal abgesehen vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Doch ob man die Schuldigen jemals zur Rechenschaft ihrer Taten ziehen wird, ist eher unwahrscheinlich. Ich halte die Lösung eines „frozen conflicts“, also eines eingefrorenen Konflikts am wahrscheinlichsten. Beispiele hierfür sehen wir auf Zypern, in Georgien, Transnistrien oder im Nahen Osten, wo Konflikte ungelöst seit Jahrzehnten weiter vor sich hinflackern, ohne dass es endgültige Friedensverhandlungen gibt.

Es kann also durchaus passieren, dass der Ukraine-Krieg einfach zum Stillstand kommt und die de facto Lage als Provisorium und ungelöster Konflikt über Jahrzehnte stehen bleibt. Nun hat der neue Krieg allerdings ein anderes Ausmaß als die anderen ungelösten Konflikte in der Welt. So kann er wie der rote Fleck auf dem Jupiter als Sturm in der Weltordnung für Jahrzehnte toben.

So viel zu den Gedanken über die Außenpolitik. Mir fehlt der politische Stammtisch, die akademische Diskussion. Über zwanzig Jahre Politik gehen an einem nicht ohne Wirkungen vorbei. Ich werde mich auf in Zukunft politisch betätigen, nur weiß ich noch nicht, wie. Vielleicht als Teilnehmer an einem Think-Tank oder diversen Online-Foren zum Thema. Auch wenn mein Einfluss in der Politik ein eher geringer war, war er zumindest da. Das habe ich geliebt an meinem Job, das freie Denken.

Freies Denken trifft man eher selten an, damals wie heute. Ich erlebe ein politisches System, welches sich weitgehend von innen selbst befeuert anstatt auf die Impulse aus der Bevölkerung einzugehen. Dies führt dann zu Feedback-Schleifen, die Diskussion verselbständigt sich und driftet ins Parteipolitische Klein-Klein ab. Ich warte darauf, dass sich, wie z.B. in Frankreich eine Bewegung aus dem Volk herausbildet, welche sich nicht mehr an den traditionellen Parteigrenzen abgrenzt, welche unabhängig und frei Thesen für eine neue Republik formuliert. Die Franzosen haben da mehr Erfahrungen. Sie scheuen sich auch nicht, ein komplettes Regierungssystem umzuwerfen, falls es in ihren Augen nichts mehr taugt. Nicht so in Deutschland. Hier wird träge ausgesessen, neue Bewegungen werden misstrauisch beäugt und bei Wahlen nicht honoriert. So entsteht im Land ein Reformations-Stau, ein Filz, der am Ende den ganzen Staatsapparat lahm legt (siehe die gescheiterte Wahl in Berlin, die jetzt mühselig wiederholt werden muss). Wobei sich in den Umfragen kaum eine Verschiebung der Machtverhältnisse andeutet und wohl alles beim Alten bleiben. So kommt Deutschland im Vergleich zu anderen Nationen nur schwer in die Gänge, träge wie ein Tanker dümpelt es dahin, während andere im schnelleren Beiboot voraus fahren.

Was bräuchte eine solche Bewegung aus dem Volk? Zunächst mal eine Galionsfigur, hinter der man sich versammeln könnte. Unabhängig müsste sie sein, nicht geschliffen durch das politische System. Strikt dem 21. Jahrhundert verschrieben, ich denke da an jemanden um die vierzig. Eine charismatische Führungsfigur, der die modernen Wege der Vernetzung an der Basis auch verstanden hat. Kein Populist aber populär. Egal, ob Mann oder Frau. Jemand, der den Mut hätte, das Establishment herauszufordern. Jemand, der den Blickwinkel des „kleinen Mannes“ hat und dessen Lebenserfahrung verschiedene Standpunkte in sich vereinen kann. Jemand, der gut mit Medien kann oder aus den Medien kommt.

Politik kann Spaß machen, und diese Person müsste den Spaß an der Politik verkörpern und den Menschen im Land das Gefühl geben, dass sich etwas tatsächlich ändern lässt, und sei es nur mit der eigenen Stimme. Auch vor großen Reformen sollte man nicht zurückschrecken. Zu viel an Macht und Kapital hat sich in den letzten Jahren hinter den Türen der Parteizentralen versammelt, zu viel Inzucht hat das System praktiziert. Natürlich besteht in solchen Bewegungen auch ein Risiko – das Risiko des radikalen Spinners, wie es die USA gerade vor mach(t)en. Das wollen wir mit Sicherheit nicht. Aber es ist schon auffällig, wie andere Staaten, vor allem die europäischen, sich eine neue Generation von politischen Führern wählen, während bei uns höchstens Stagnation herrscht.

Ich möchte noch einmal sagen, wie ausdrücklich glücklich ich bin, und dankbar, dass ich in einem Land lebe, in dem ich all das frei sagen kann, in dem ich frei konstruktiv kritisieren kann, ohne dafür fünfzehn Jahre Haft fürchten zu müssen. Ich bin froh, in einem Land zu leben, welches sich auch um die Gefallenen in der Gesellschaft kümmert, in dem niemand hungern muss oder im kalten Winter erfrieren. Dieses Land gibt mir sehr viel, so dass ich jetzt in einer Bringschuld bin diesem Land gegenüber, in dem es funktionierende Sozialsysteme gibt.

Diese Episode in meinem Leben schärft definitiv den Blickwinkel zum Rand der Gesellschaft hin. Dazu möchte ich meinen Teil beitragen, wo ich nur kann.

* Alte Seele ist ein fiktives Konstrukt, meine imaginäre Freundin, an die ich meine Briefe und Gedichte richte